Zur Kritik der Theorie des autoritären Charakters

Die folgenden Thesen habe ich für das Tagesseminar „Der autoritäre Charakter und die reaktionären Tendenzen der Gegenwart“ am 27.4.2019 in Berlin geschrieben.

Meiner Kritik liegt diese Fragestellung zugrunde: Was sind die Bedingungen, die das subjektive Potential („Massenbewusstsein“, „Mentalität“) für das Umkippen der Gesellschaft nach Rechts (AfD, rechte Massenbewegung, Rechtsruck auch der politischen Mitte) erklären, und wie geht dieses subjektive Potential aus diesen Bedingungen hervor? Können wir die Erklärung dieses subjektiven Potentials aus den Bedingungen der Gegenwart mithilfe der Theorie des autoritären Charakters (Adorno) vornehmen?

Mit den folgenden Thesen möchte ich sagen, dass mit der Theorie des autoritären Charakters, so wie sie u. a. in Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ formuliert ist, der gegenwärtige Rechtsruck nicht verstanden werden kann (ebensowenig wie der historische Faschismus). Es bedarf der Entwicklung einer anderen Theorie des reaktionären Bewusstseins, wofür ich am Schluss einige kleine Hinweise gebe.

1. Die „Studien“ haben keine antikapitalistische Subjekttheorie.

Die „Studien“ stellen dem autoritären Charakter einen liberalen Charakter als das „potentiell antifaschistische Individuum“ gegenüber. Der liberale Charakter ist aber tatsächlich ein prodemokratischer Charakter und steht gewissermaßen auf dem Boden der Verfassung, als er dem klassisch-liberalen und souveränen Subjekt entspricht. Das drückt ja auch schon der psychologische Begriff des starken Ich aus. Der liberale Charakter wird durch Autonomie, Unabhängigkeit (S. 353), Selbstreflexion, Rationalität (S. 160) charakterisiert, und er ist gegen Diskriminierung, weil er für die Gleichheit der Menschen und die Menschenrechte (S. 164) ist, mithin alles bürgerliche Kategorien.

Aussagen über einen antikapitalistischen Charakter oder einen kommunistischen Charakter oder ähnlich werden dagegen nicht getroffen. Über einen antikapitalistischen Charakter nachzudenken kann der Theorie des faschistischen Individuums aber nicht äußerlich bleiben, so dass man Adornos „Studien“ dann einfach um eine Theorie des antikapitalistischen Charakters ergänzen könnte. Denn das beträfe gerade die Frage des Klassenbewusstseins. Klassenbewusstsein ist immer ein kollektives Verständnis dessen, dass die eigene Klassenlage und die eigenen Konflikte durch das System im Ganzen bedingt sind und daher dieses im Ganzen revolutioniert werden muss. Man müsste eigentlich über das Klassenbewusstsein gerade im Kontrast zum faschistischen Individuum nachdenken, denn Klassenbewusstsein müsste eigentlich die Faschisierung der Individuen gerade verhindern, und darüber hinaus ist es sicherlich etwas anderes als Adornos Gegentypus des liberalen Charakters.

Meiner Meinung nach müsste man den faschistischen und den liberalen Charakter als zwei Formen des kapitalistischen Charakters verstehen, der überhaupt überwunden werden muss.

2. Die „Studien“ haben weder eine klassentheoretische Analyse noch beziehen sie die Bedeutung der ökonomischen Bedrohungen für die Faschisierung des Individuums mit ein.

Man kann bei diesem Kritikpunkt wie schon beim ersten sagen, dass Adorno wegen seiner Geldgeber gezwungen war, marxistische Begrifflichkeit und revolutionäre Implikationen systematisch außen vor zu lassen. Ich würde zwar sagen, dass Adorno das woanders auch nicht systematisch miteinbezieht, aber das ist hier nicht der Punkt. Denn so oder so müssen wir die „Studien“ ergänzen um die marxistische Begrifflichkeit und revolutionäre Implikation. Jedenfalls kann man an die „Studien“ nicht einfach so ohne marxistische Überarbeitung anschließen.

Aber jetzt zur Ausführung dieser These.

Zwar wird in den „Studien“ ein großes Augenmerk auf eine irrationale und unbewusste Angst als eine der Ursachen des Autoritarismus gelegt. Allerdings betrifft diese Angst nur die Angst vor der Autorität, d. h. vor der Strafe oder auch nur vor seiner Abwendung. Diese Angst vor der Autorität sitzt dann in der Charakterstruktur als solcher und ist mit eine Ursache für die Charakterzüge des Konventionalismus, der autoritären Unterwerfung, autoritären Aggression usw. Allerdings fehlt hier die ökonomisch bedingte Angst völlig.

Mit der ökonomisch bedingten Angst meine ich zweierlei.  Zum einen die Angst, die mit der Klassensituation überhaupt zusammenhängt, d. h. mit der strukturellen Eigentumslosigkeit. Mit dieser Klassensituation ist per se verbunden, dass der Einzelne isoliert und auf sich allein gestellt ist. Es ist quasi eine reale Existenzangst, die jeder Proletarisierte haben muss, und die auch hinter vielen Ängsten vor der Autorität, wie z. B. Chef oder Jobcenter steht.

Zum andern meine ich die Ängste, die sich aus besonderen ökonomischen Bedrohungen in Krisenzeiten ergeben. Das meine ich so, wie das Ansteigen von Rassismus und Nationalismus oft erklärt wird, nämlich durch Ängste vor sozialer Deklassierung, Ängste vor Arbeitsplatzverlust, Ängste vor Statusverlust, die Angst, dass im Alter die Rente nicht reicht.

Adorno erwähnt zwar eine Furcht, die mit der kapitalistischen Wirtschaft zusammenhängt, als Ursache des Antisemitismus (S. 123). Aber damit meint er keineswegs die Angst vor materiellen und finanziellen Verlusten, sondern bloß die Angst als Desorientierung in einer undurchschaubaren Welt.

3. Mit den „Studien“ ist die Konjunktur von rassistischem oder faschistischem Massenbewusstsein nicht erklärlich.

Wir erleben es eigentlich so, dass rassistische Stimmung in der Gesellschaft zu bestimmten Zeiten zunimmt und dann auch wieder abnimmt. Zum Beispiel gab es eine Welle zu Anfang der 1990er Jahre, Stichwort Rostock-Lichtenhagen, und dann gibt es jetzt in den letzten Jahren wieder eine Welle. Nach der Theorie der „Studien“ kann die Ursache einer solchen Konjunktur nur in der Zunahme der Propaganda bestehen (S. 9). Das heißt, mit der Theorie der „Studien“ muss man davon ausgehen, dass die autoritären Charaktere zu jeder Zeit in gleicher Weise verbreitet sind. Sie sind immer potentiell faschistische Individuen, und durch die Propaganda werden sie dann manifest faschistische Individuen. Die „Studien“ setzen also die einzige Ursache der Konjunktur in die Propaganda.

Aber wodurch wird die Konjunktur der Propaganda dann wieder erklärt?

Entweder man nimmt wie in der orthodox marxistischen Faschismustheorie an, dass hinter der Propaganda kapitalistische Machtinteressen stehen. Diesen Machtinteressen würden dann zu bestimmten Zeiten Rassismus und Faschismus besser in den Kram passen als Demokratie und Menschenrechte. Aber dann hätte man eigentlich wieder alles in Ökonomie aufgelöst, abgesehen davon, dass diese Theorie recht verschwörungstheoretisch ist.

Aber die Propaganda wird ja nicht nur gelenkt produziert, sondern von vielen unabhängig agierenden Journalisten, Grüppchen, Think Tanks, Rednern, Schriftstellern usw. Aber dann muss man auch wieder erklären, wie diese Subjekte der Propaganda zu ihrem Rassismus kommen. Denn wenn sie schon immer Rassisten gewesen wären, dann wäre wieder nicht erklärt, warum gerade in bestimmten Zeiten die Konjunktur da ist. Also muss man hier auch davon ausgehen, dass es eine eigenstände Dynamik des Bewusstseins gibt, das aus sich heraus zum manifesten Rassismus und Faschismus übergehen kann, ohne dass es dafür Propaganda braucht.

Ich will hier eigentlich insgesamt dafür plädieren, dass man die Konjunktur des rassistischen und faschistischen Massenbewusstseins viel unmittelbarer mit dem ökonomischen Krisenprozess zusammendenken muss. Und dafür muss man dann die Ängste vor den ökonomischen Bedrohungen wie Arbeitsplatzverlust miteinbeziehen, die ich oben erwähnt habe.

4. Der Übergang zum faschistischen Individuum ist nicht nur einer von potentiell zu manifest, sondern beinhalt eine qualitative Änderung des Charakters.

Adorno denkt in den „Studien“ den Übergang zum faschistischen Individuum immer so, dass das Individuum seiner grundlegenden Charakterstruktur bereits faschistisch ist. Das besagt die Rede davon, ein H zu sein, d. h. auf der F-Skala hoch zu skalieren. Diese Hochskalierenden sind meistens auch antisemitisch, ethnozentrisch, und politisch reaktionär. Sie sind nur darum nicht manifest faschistisch, weil dies durch die offizielle Demokratie der USA verboten ist. Aber dieses faschistische Potential besteht aus unbewussten Wünschen, die beständig zum Ausbruch drängen.

Das ergibt zunächst das meines Ermessens seltsame Bild, dass im Grunde der größte Teil der Gesellschaft potentiell faschistisch ist, d. h. dass die meisten Menschen im Innern rassistische und politisch reaktionäre Wünsche haben, selbst wenn sie tatsächlich gegen Rassismus eintreten und sich auf den Boden der Verfassung stellen. Wenn das so stimmt, dann gibt es außerdem nicht viel Spielraum für eine soziale Revolution, denn der autoritäre Charakter mit seinen aggressiven Wünschen ist relativ beständig und kann nicht durch Erfahrung oder Gespräch verändert werden.

Aber das ist nur meine Wahrnehmung, dass ich das ein seltsames Bild finde, und kein Gegenargument gegen die Theorie.

Meine Gegenargumente sind die folgenden:

1. Der Übergang zum Rassismus oder Faschismus vollzieht sich oft sehr plötzlich und wird oft als ein einschneidendes Erlebnis erzählt. Zum Beispiel so, dass man jetzt endlich alles versteht (antimuslimischer Rassismus, Verschwörungstheorie). Hitler schreibt z. B. in „Mein Kampf“: „Und da sah ich ihn, den Juden.“ Es ist wie eine Konversion, eine plötzliche Einsicht, die man hat.

2. Man darf den Faschismus nicht als Gegenpol zum Liberalismus verstehen, sondern man muss den Faschismus so verstehen, dass er aus dem Liberalismus selbst hervorgeht. Das gilt entsprechend für das Subjekt. Man muss verstehen, wie aus den stinknormalen liberalen Subjekten des bürgerlichen Alltags jene Faschisten hervorgehen, gegen die dieselben liberalen Subjekte vorher immer so geschimpft haben.

3. Und inhaltlich: Das reaktionäre Bewusstsein ist so zu verstehen, dass die Widersprüche des liberalen Subjekts, die dieses nicht wahrhaben will, als unvermeidbar und notwendig gesetzt werden. Anerkennung -> Rassismus. Patriotismus -> Nationalismus. Demokratie -> Diktatur.

Fazit

Man kann enorm viel von den „Studien“ lernen:

  • Sie nehmen eine Fragestellung und Perspektive auf das Subjekt als Grundlage des Faschismus, d. h. dass es eine sozialpsychologische Untersuchung zur Erklärung des Faschismus braucht.
  • Sie stellen konkret die Zusammenhängen im Ganzen von basaler Charakterstruktur, konkreten Charaktertypen und Ideologien wie Antisemitismus, Antidemokratismus, Nationalismus, Antikommunismus her, und dies auf der Grundlage von reichhaltigem empirischem Material, und es ist gerade dieses Panorama des Ganzen in seinen Details, das die „Studien“ so auszeichnet.

Aber man kann auch von den „Studien“ so, wie sie vorliegen, nicht ausgehen, für die Theorie des Faschismus. Das gilt damals wie heute. Vielmehr müsste über die „Studien“ hinaus eine Theorie des reaktionären Bewusstseins entwickelt werden, die eine antikapitalistische Subjekttheorie Und eine marxistische Gesellschaftstheorie zugrundelegt.