Philosophie und kritische Gesellschaftstheorie

Philosophie ist nur Selbstbespaßung. Philosophie hilft in der Analyse der Wirklichkeit nicht weiter. Philosophie nützt nichts für emanzipatorische Praxis.

Solche und ähnliche Vorwürfe werden oft gegen die Philosophie erhoben, gerade auch von kritisch denkenden Menschen.

Ich habe auch selbst das Problem, dass zwar Philosophie irgendwie mein Fach ist, dass ich aber philosophischen Vorträgen oder Texten überhaupt nicht folgen kann, nicht „hineinkomme“, weil sie überhaupt keinen Gegenstand analysieren, sondern nur in einer Selbstreflexion ideologische Formen unserer Gesellschaft philosophisch zu reproduzieren scheinen. Mir ist dann selbst nicht klar, wie das weiterhelfen soll in der Analyse der Wirklichkeit, und ich kriege keinen Zugang zum Inhalt des Vortrags.

Andererseits hat man nur in der innerphilosophischen Diskussion die Möglichkeit, auf dem Niveau einer fundierten Kenntnis der philosophischen Tradition und einer genuin philosophischen Reflexion aktueller gesellschaftlicher Perspektiven und Themen zu diskutieren.

Es ist denke ich recht wichtig, sich in dieser philosophische Diskussion zu bewegen, wobei es zugleich nicht möglich ist, da wirklich drin zu sein, so dass man nur von außen auf die ideologischen Formen der Philosophie schauen kann.

Welchen Sinn hat es also, sich mit Philosophie zu beschäftigen? Meine Antwort ist kurz gesagt, dass man in der Rezeption der Philosophie nicht nur dem Inhalt folgen darf, sondern auf die Form der Philosophie selbst achten muss, diese vergegenständlichen und kritisch verstehen muss, sich dann auch an der kritischen Diskussion des dargestellten Inhalts (Thesen, Analysen) beteiligen kann, und schließlich – das ist aber ein hochanspruchsvoller Schritt – nicht nur den Inhalt, sondern die Form explizit kritisieren kann.

Damit ich diese Argumente entfalte, muss ich zunächst drei Dinge unterscheiden, d. h. drei Wissenschaftstypen:

1. Einzelwissenschaft: Die gegenständliche Forschung, z. B. zu Rechtspopulismus, Klimawandel, postdramatischem Theater, Klassenanalyse. Also Fächer wie Psychologie, Physik, Kulturwissenschaft, Soziologie.

2. (Eigentliche) Philosophie: Reflexion außerhalb von aktueller Praxis, insbesondere Forschungspraxis, über die Probleme dieser Praxis. Zur Forschungspraxis gehört die Einzelwissenschaft und die Philosophie selbst. Reflexion über Legitimation, Begründbarkeit, Möglichkeit aktueller Praxis. Zum Beispiel als Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, Frage nach der richtigen Kritik usw.

3. Dialektische Philosophie: Darstellung aktueller Praxis und Forschungspraxis, aber nicht als Einzelwissenschaft, sondern mit dialektischer Methode, d. h. grob gesagt im Gesamtzusammenhang einzelner Praxen und Forschungspraxen, und nicht reflektierend außerhalb der Praxis und Forschungspraxis, sondern – in spezifischer Weise – „innerhalb“ der Praxis und Forschungspraxis.

Dazu einige Bemerkungen:

Dialektische Philosophie ist selten und anspruchsvoll, aber sie ist nicht materialistische Dialektik, die sich immanent mit der Praxis und Forschungspraxis verbindet und unmittelbar in der Theorie auf die praktische Überwindung der dialektischen Logiken in der Gesellschaft abzielt. Als akademisches Projekt ist dialektische Philosophie immer auch am Kippen, weil es eigentlich nicht mehr in die Zwänge des akademischen Betriebs passt. Mit solcher dialektischen Philosophie meine ich nicht nur Hegel, sondern auch z. B. Benjamin, Foucault, in Teilen Althusser, und nicht zufällig standen diese Denker quer zu akademischen Gepflogenheiten.

Die dialektische Philosophie muss nicht nur Praxis darstellen, sondern kann insbesondere auch Philosophie selbst darstellen, z. B. Spinoza, aber vor allem auch die zeitgenössischen philosophischen Debatten. Diese Darstellung der Philosophie ist dennoch etwas anderes als Philosophie, weil sie „innerhalb“ dieser philosophischen Praxis deren eigene Logik darstellt und sie in den Gesamtzusammenhang mit anderen Praxis stellen kann.

Die (eigentliche) Philosophie reflektiert zwar außerhalb der Praxis über diese, aber zugleich kann sie daher auch nicht ohne Darstellung der Praxis auskommen. Man findet daher immer wieder Erläuterungen, Beispiele, apercu-hafte Bezugnahmen auf Literatur und Zeitgeschehen usw. Zum Teil wird solche Philosophie dann über große Strecken wieder dialektisch, wie dies z. B. in Honneths „Recht der Freiheit“ der Fall ist, das versucht konkret die Gegenwart in unterschiedlichen Facetten darzustellen. Umgekehrt kann auch dialektische Philosophie nur dem Namen nach dialektisch sein, tatsächlich aber zu einer vom Gegenstand losgelösten Reflexion werden, wie das beim späten Adorno oft der Fall ist (Negative Dialektik), und ebenso in der philosophischen Adorno-Rezeption.

Hier nun meinen versprochenen Überlegungen dazu, welchen Sinn es hat, sich mit Philosophie zu beschäftigen:

1. Philosophie als implizite Darstellung von Gesellschaft: Philosophie ist dort, wo sie eine ideologische Form reproduziert, nicht in platter Weise „völlig ideologisch“ und damit falsches Wissen, sondern die Philosophie reflektiert diese ideologische Form und ist darum konkretes Wissen. Der Grund ist kompliziert: Die Philosophie reflektiert gerade darin, dass sie ideologisch ist, den ideologischen Charakter der gesellschaftlichen Realität, und da diese selbst ideologisch ist – d. h. in ideologischen Wahrnehmungs- und Subjektivitätstypen bestehend –, stellt die Philosophie genau darum diese Realität dar. Die Philosophie ist also in ihren zahlreichen aktuellen Reflexionstypen und Fragestellungen Darstellung der gesellschaftlichen Realität, und das auch etwa als Frage nach der richtigen Kritik, als analytische Erkenntnistheorie, als Ästhetik. Insofern diese Reflexionen verbergen, dass sie einen gesellschaftlichen Subjektivitätstypus reflektieren, gehört diese Verbergung gerade zu diesem Subjektivitätstypus, so z. B. in der Frage nach der richtigen Kritik, die zu großem Teil die Reflexion einer „kritischen Haltung zur Welt“ ist.
Das heißt die gegenwärtige gesellschaftliche Realität erhält in der Philosophie ihren reflektierten Ausdruck, und gerade die Rezeption der aktuellen philosophischen Diskussion ermöglicht es, diese gesellschaftliche Realität in ihren gegenwärtigen heterogenen Wahrnehmungs- und Subjektivitätstypen, und auf der Höhe ihrer eigenen Selbstreflexion mitzubekommen. Die Rezeption der zeitgenössischen Philosophie ist also selbst immanenter Teil der kritischen Gesellschaftstheorie auf dem aktuellen Stand.


2. Philosophie als Methodenreflexion: Die Philosophie, die die Methode von Forschungspraxis reflektiert, führt das als Reflexion einer „Methode als solcher“ durch, das heißt ohne sich selbst in die Darstellung des Gegenstands, der in der Forschungspraxis untersucht wird, hineinzubegeben. Es findet also eine Trennung der Methodenreflexion von der konkreten Forschungspraxis statt, und diese Trennung ist so gut wie durchgängig. Daran ändert sich auch nichts, wenn eine Einzelwissenschaft selbst „philosophisch wird“ und ihre Methode reflektiert. Die akademische Forschungspraxis besteht in aller Regel (wo sie nicht dialektisch wird) eben darin, Methodenreflexion und Forschungspraxis voneinander zu isolieren. Dass die Forschungspraxis nicht dialektisch ist, liegt eben darin, dass Methodenreflexion und konkrete Forschungspraxis voneinander isoliert sind. Aber es ist für die kritische Gesellschaftstheorie gerade wichtig, diese isolierte Methodenreflexion zu analysieren und zu kritisieren, um die konkrete Forschungspraxis zu kritisieren und ihre Arbeiten aneignen zu können, zum Beispiel die Arbeiten der psychoanalytischen Forschung. Das heißt die Methode der konkreten Forschungspraxis muss kritisiert werden, damit die Einzelforschungen für eine dialektische Analyse angeeignet werden können. Und darum also ist die kritische Rezeption der Philosophie, insofern sie Methodenreflexion ist, nötig.


3. Philosophie ist immer auch Darstellung: Die Philosophie ist schließlich aber nicht einfach nur in dieser indirekten Weise interessant, dass man sie produktiv verwerten kann, wenn man ihre Form selbst zum Gegenstand der Kritik macht. Sie ist immer auch notwendig Darstellung, an die man direkt anschließen kann bzw. von der man direkt lernen kann, und dies in vielfacher Hinsicht: Als Interpretation früherer und heutiger Philosophie, als Analyse von Grundkategorien wie Selbstbewusstsein, Gefühl, Identität, Erkenntnis, Moral, Vernunft, Wesen/Erscheinung, Politik usw., als Überblick über Debatten und Denk-Horizonte usw. Da sich diese Darstellung in einer ideologischen Form vollzieht, ist allerdings die jeweils kritische Aneignung dieser Darstellung nötig. Gleichwohl hat Philosophie immer auch Gegenstände im vollen Sinne, ist also Darstellung von Gegenständen, wenn diese auch sehr abstrakt sind. Und hier kann man sich auch direkt an der philosophischen Diskussion beteiligen und über die adäquate Darstellung des Gegenstands kontrovers diskutieren, wie dies auch bei Einzelwissenschaften wie Soziologie möglich ist.


4. Kampf in der Philosophie: Nur die aktive Beteiligung an der zeitgenössischen philosophischen Diskussion macht es möglich, innerhalb dieser Selbstreflexion aktueller Praxis und gegen sie eine kritische Kraft zu bilden, sei es durch kritische Beiträge in Veranstaltungen oder durch an textlichen Debatten. Das wäre der politische Kampf der materialistischen Dialektik innerhalb der Philosophie, und die Weise, wie eine vollständige Beteiligung an der philosophischen Diskussion möglich ist.
Diese kontroverse Beteiligung ist allerdings heute so gut wie nicht möglich, und kann keine primäre Forderung an materialistische Dialektik sein. Denn so eine kontroverse Beteiligung ist eigentlich nur möglich auf einer doppelten Grundlage: Zum einen einer ausgearbeiteten Selbstverständigung über materialistische Dialektik, und das bedeutet gleichzeitig eine ausgearbeitete Kritik der Gesellschaft; zum anderen die organisatorische Verankerung in einer praktisch-revolutionären Organisierung, die dem Kampf in der Philosophie erst Sinn gibt und ihm einen Rückhalt außerhalb der Philosophie gibt: Einerseits ist nur dann eine treffende kontroverse Stellungnahme möglich, wenn man das Argument gut und überzeugend ausführen kann, andererseits macht die Beteiligung an diesen Diskussionen ja auch etwas mit den Menschen selbst, die sich in die aktuellen Argumente der Philosophie hineindenken müssen und sie auch für sich selbst prüfen müssen, um gegen sie argumentieren zu können.
Da weder die ausgearbeitete Kritik noch die praktische Organisierung heute gegeben sind, ist der Kampf innerhalb der Philosophie keineswegs eine relevante Tätigkeit. Viel zentraler scheint es heute zu sein, überhaupt materialistische Dialektik und Kritik auszuarbeiten, eben unter anderem durch die Rezeption der zeitgenössischen Philosophie. Trotz dieser Schwierigkeiten kann man es durchaus versuchen, sich so an der philosophischen Diskussion zu beteiligen.