Ich versuche hier eine kulturkritische marxistische Lektüre des Anti-Ödipus auszuarbeiten. Zusammengefasst kann man sehr viel von der Kulturkritik des Anti-Ödipus lernen und sich von ihren antiautoritären Emanzipationsideen inspirieren lassen, muss sich dafür aber mit ziemlich grundlegenden Problemen auseinandersetzen, aufgrund derer der Anti-Ödipus praktisch – obwohl er in seinem Selbstverständnis marxistisch und revolutionär ist – bloß auf beschränkte Emanzipationen in finanziell abgesicherten kulturellen Nischen hinausläuft.
Der folgende Blogartikel ist etwas lang geworden – hier die 10 Punkte, jede*r kann sich sein Interesse heraussuchen:
1. Eine Fülle von eindrücklichen und präzisen Kritiken.
2. Anregende Emanzipationsideen.
3. Wie überhaupt zum Anti-Ödipus auf deutsch einen Zugang gewinnen?
4. Sieben Rezeptionsstränge
5. Die reflektierte Verrücktheit („Schizophrenie“) dieser Philosophie
6. Beschränkte Emanzipation in kulturellen Nischen
7. Grundproblem: Spinozismus (abstrakter Prozess und undifferenzierte Substanz)
8. Affirmative/unkritische Logik
9. Theorie des Kapitalismus im Anti-Ödipus ist bloß Theorie der kapitalistischen Kultur (darum nicht falsch, aber ein quid pro quo)
10. Ökonomiekritisch verkleideter Kulturalismus/Subjektivismus
Anhang: Äquivalenzen zwischen Anti-Ödipus und Hegels Phänomenologie des Geistes
Die folgenden Ausführungen sind im Einzelnen nicht immer hundertprozentig präzise. Ich habe gerade keine Zeit zur Verfügung, mich mit den genauen Wendungen und Begriffen und ihren Gebrauchsweisen im Anti-Ödipus auseinanderzusetzen. Mir ging es hier vor allem darum, einen grundsätzlichen Zugang zum Buch zu konzipieren.
Zitation nach: Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, Suhrkamp 1974.
Es stellt sich zunächst einmal die Frage, was positiv am Text des Anti-Ödipus selbst interessant ist, also warum man ihn überhaupt lesen sollte. Dazu zunächst zwei Punkte:
1. Eine Fülle von eindrücklichen und präzisen Kritiken
Dies liegt erstens an der enormen Fülle von scharfsinnigen kritischen Phänomenologien – des „Ödipus“, der Familie, der Sprache, der Psychoanalyse usw.
Deleuze und Guattari beschreiben diese Phänomene jeweils sehr eindrücklich, arbeiten präzise ihre Struktur und ihre Widersprüche heraus, zeigen ihre Konstitution in Verhältnissen und Interaktionen auf (zum Beispiel der Familie im Kapitalismus, des Ödipus in der Familie) und machen aus einer antiautoritären Perspektive den repressiven, entfremdenden Charakter dieser Phänomene deutlich.
Ödipus: Im Zentrum steht natürlich der „Ödipus“, d. h. der vom Kapitalismus geschaffenen Subjektform. Der Begriff „Subjekt“ hat im Anti-Ödipus irritierenderweise positive Bedeutung (vgl. S. 24) und meint ein „nomadisches“ Subjekt „bar jeder festen Identität“. Das bürgerliche/kapitalistische Subjekt nennen Deleuze/Guattari immer „Ödipus“. (Ebenso wie Subjekt nutzen Deleuze/Guattari übrigens die Begriffe Fetisch, Entfremdung, Abstraktion, auch wenn diese im nachfolgenden Poststrukturalismus immer als essentialistisch denunziert wurden.)
Mit Ödipus ist eine innere Pervertierung des Individuums gemeint, die bedingt ist durch die Privatstrukturen von Individuum und Familie, und in der die Individuen derart manipuliert sind, dass sie von den gesellschaftlichen „Strömen“, die durch sie hindurch gehen und ihr Wesen ausmachen, losgelöst sind in ein abstrakt-fetischhaftes rein individuelles Selbstverhältnis, den Ödipus (genauer müsste es heißen: die Ströme fallen in einer innere Pervertierung, sie klappen in einen Selbstwiderspruch um, sie lösen sich von sich selbst los). Der Ödipus hat zugleich jeden Kontakt „zu sich selbst“ verloren und obwohl er in jeder einzelnen Aktion seine eigene Repression betreibt, meint er ganz bei sich zu sein und mit jeder Aktion für sein eigenes Wohl zu handeln. Das wird vielleicht am klarsten an der „grundlegenden Frage der politischen Philosophie“, die sie von Spinoza zitieren: „Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?“ (S. 39)
Der Ödipus ist damit so etwas wie eine ganz dünne Schicht im Individuum, die zugleich meint, das ganze Individuum und es selbst zu sein, dabei dieses unterdrückt und diese Unterdrückung nicht mitkriegt. Als Ödipus bildet das Individuum gewissermaßen seine eigene Abstraktion. Die unzähligen und energiegeladenen Ströme, die durch das Individuum hindurchgehen und es ausmachen, sind damit im Ödipus in einem künstlichen abgeschlossenen Territorium gefangen (Dialektik von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung), das eigentlich so gut wie nichts ist und doch eine enorme repressive Kraft entfaltet.
Entsprechend bezeichnen Deleuze/Guattari den Ödipus als „Trugbild“ (S. 341), als „kleinen Mikrokosmos“ (S. 343) des narzisstischen Subjekts, das in seinen imaginären Wünschen immer über sich selbst hinaus ist (ständige „Verschiebung der Grenze“ S. 345), von einer „unendlichen subjektiven Repräsentation“ (S. 391) – das Bild des Individuums von sich, an das das Individuum selbst glaubt, durch das es allerdings beherrscht wird – unterjocht und subjektiviert.
Die anderen kritischen Phänomenologien des Anti-Ödipus beziehen sich jeweils auf diesen Ödipus als dem struktiven Zentrum des Buchs.
Die therapeutische Praxis der Psychoanalyse: Deleuze/Guattari stellen recht intensiv die entfremdende Praxis der Psychoanalyse dar, die unter sehr strenge Regeln gesetzt ist, die nicht infragestellt werden dürfen. Grundlage ist ein bürgerlicher Vertrag: „Redestrom gegen Geldstrom“ (S. 70). Bei Eintritt ins Analytikerzimmer muss man sich auf ganz bestimmte Art und Weise verhalten, damit das Konzept der „Heilung durch Übertragung“ funktioniere, zum Beispiel dürfe man keine Tonbandaufnahme von sich mitbringen, man dürfe die Psychoanalyse-Situation nicht durch „schizophrene“ Einbrüche sprengen usw. Die Kritik daran ist scharf: Indem der Analytiker unausgesprochen immer so vorgeht: was du auch sagst, das, was du sagst, will etwas anderes sagen, produziert er die Spaltung der Patientin in eine Subjekt der Aussage und ein Subjekt des Aussagevorgangs und reproduziert so den Ödipus. „[…] ihre ganze perverse Behandlung besteht darin, die Familienneurose in eine künstliche Neurose (Übertragung) zu verwandeln und die Couch, die kleine Insel mit ihrem Kommandanten, dem Analytiker, zur autonomen Territorialität und zum letzten Kunsterzeugnis zu erheben.“ (S. 415)
Familialismus: Die Familie wird als abgeschlossene Privatinstitution kritisiert, obwohl sie eigentlich nur ein Moment oder Aspekt des gesellschaftlichen Feldes ist. Sie ist „privatisierte Familie“ (S. 391), in der es ständig um die Zeugung des Kindes durch den Vater geht, und dann wiederum das Kind „zuerst da“ war mit seinen unbändigen Energien, so dass es vom Vater ödipalisiert und zivilisiert werden muss, während die Familie, die Zeugung und selbst diese Aufgabe vom Vater doch gesellschaftlich bedingt ist (S. 355, S. 357) und sich gerade nicht „nur“ im abgeschirmten Raum der Familie abspielt. Deleuze/Guattari beschreiben die Familie als Dreieck von Papa-Mama-Kind. „Was bleibt, ist am Ende ein intimes und familiales Theater, das des Privatmenschen“ (S. 393). Das Unbewusste spielt sich in ständigen Theater-Szenen ab, die in jeder Familie einzigartig scheinen und doch nur das immer gleiche Theater des Ödipuskomplexes durchexerzieren.
Sprache der Repräsentation: Deleuze/Guattari stellen eine vorherrschende Sprache heraus, in der über die Dinge immer in einem Verhältnis der Repräsentation geredet, in dem immer ein tiefer, einheitlicher und vorgängiger Sinn herausgehoben wird (S. 141) und dabei aber immer usurpatorische Bilder erschaffen (S. 312), die dann die Repräsentation darstellen. Es ist immer die Frage: „Was bedeutet das?“ (S. 141) Dem stellen D/G eine Sprache des Gebrauchs, der Nützlichkeit und des Bastelns/Experimentierens.
Politische Reterritorialisierungen (Rassismus usw.): Es gibt eine Phänomenologie von Rassismus, Nationalismus, Religion, Faschismus, Kommunismus und ähnlichem. Es sind politische Reterritorialisierungen, Besetzungen eines politischen, ökonomischen, kulturellen Feldes (vgl. S. 354). Deleuze/Guattari erklären sie letztlich durch einen paranoischen Wahn, indem das Individuum als solches und direkt das politische, ökonomische, kulturelle Feld besetzt. Diese Besetzung ist die Erschaffung eines künstlichen Refugiums (einer Rasse, einer Nation, selbst der Arbeiterbewegung) in einer „decodierten“ und „deterritorialisierten“, d. h. unübersichtlichen und daher beängstigenden Welt.
Deterritorialisierung/Reterritorialisierung: Das zentrale Begriffspaar im Anti-Ödipus, um den Kapitalismus in seiner Logik zu kritisieren, und worin er auch von allen bisherigen Gesellschaften unterschieden ist. Mehr oder weniger dasselbe bedeutet Decodierung/Recodierung. Während bisherige Gesellschaften ihre Herrschaft, Ordnung und Strukturen in festem Gefüge hatten – d. h. sie waren „territorial“ – basiert der Kapitalismus auf der Deterritorialisierung, d. h. er lebt geradezu von der Befreiung bisher gebundener, „territorialisierter“ Elemente, was im Prinzip ein positiver Aspekt des Kapitalismus ist. Hauptbeispiele sind die Freisetzung der Lohnarbeiter von Arbeitszwang und Feudalbindung und die Grenzenlosigkeit und endlose Konvertibilität des Geldes (vgl. S. 178). Aber es gibt noch viele andere Beispiele und lässt sich bis heute weiter denken (z. B. Befreiung der Frauen, Befreiung der Sexualität usw.). Die Pointe über den Kapitalismus ist, dass er zugleich eine repressive Ordnung ist und nur mit der Deterritorialisierung seine Ordnung zugrunde gehen würde. Der Kapitalismus baut daher seine Herrschaft auf der Reterritorialisierung der deterritorialisierten Ströme auf, wobei er letztere eben selbst betreibt. Der Kapitalismus ist damit das absurde Wesen, das in ständiger Dynamik und Deterritorialisierung seinen eigenen Untergang in Kauf nehmt und um ihn abzuwenden alles Neue immer wieder in einen veränderten Grundbestand seiner Ordnung, eine neue „Axiomatik“ eingliedert:
„Der Kapitalismus ist die einzige Gesellschaftsmaschine, die sich […] als solche auf decodierten Strömen aufgebaut und die intrinsischen Codes durch eine Axiomatik abstrakter Quantitäten in Form des Geldes ersetzt hat. Folglich befreit der Kapitalismus die Wunschströme, allerdings innerhalb gesellschaftlicher Bedingungen, die seine Grenze und die Möglichkeit seiner Auflösung definieren – so daß er fortwährend mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dieser Bewegung, die ihn dieser Grenze zutreiben läßt, entgegenwirkt.“ (S. 177)
Alle diese Kritik stehen jedoch vor dem Hintergrund einer ontologischen Wunschmaschinen-Metaphysik, die man erst einmal kritisch reflektieren muss, bevor man die geschilderten Kritiken produktiv aufnehmen kann. Die Auseinandersetzung mit dieser Metaphysik ist ziemlich aufwendig, sie ist ziemlich kompliziert. Ich komme zu dieser Metaphysik noch.
Es ist ein bisschen wie bei Nietzsche, auf dem der Anti-Ödipus ja auch, unter anderem, aufbaut: Nietzsche gibt eine Fülle von sehr treffenden und scharfsinnigen kritischen Beobachtungen, aber letztlich läuft das bei Nietzsche auf eine ziemlich problematische Philosophie des Willens und des Lebens hinaus.
2. Anregende Emanzipationsideen
Zweitens können Deleuze/Guattari mit ihrer Orientierung auf Überwindung von Dualismen auf allen Ebenen, also letztlich der Überwindung der gesellschaftlichen Trennungen, eine aus meiner Sicht ziemlich anregende revolutionäre Perspektive aufmachen. Es geht dabei dann nicht mehr nur um die gesellschaftliche Kontrolle der Produktionsmittel, sondern beispielweise auch die Überwindung des „Bruchs von Mensch und Natur“ (S. 8), die revolutionäre Einheit von Arbeit und Wunsch, das Verhältnis zur Sprache, zwischen den Geschlechtern oder innerhalb von Gruppen. Zum Beispiel sagen sie, dass der Wunsch niemals isoliert individuell, sondern immer gesellschaftlich-kollektiv ist (vgl. S. 40). Oder sie sagen, dass der Wunsch nicht durch die Trennung von seinem Objekt, durch seinen „Mangel“ bestimmt ist (vgl. S. 34-37).
Das alles steht natürlich unter dem Oberthema, dass es nicht den Wunsch (sozusagen die Psychoanalyse) auf der einen Seite und auf der anderen Seite die gesellschaftliche Produktion gibt, sondern dass es nur eine Ökonomie gibt, dass beides eigentlich nicht getrennt ist und nur im Kapitalismus voneinander getrennt wird, wobei aber auch hier die Trennung nur dadurch funktioniert, dass Wunsch und Gesellschaft eigentlich nicht getrennt sind. „Es gibt nicht gesellschaftliche Produktion von Realität auf der einen, Wunschproduktion von Phantasie auf der anderen Seite.“ (S. 38) Gerade in der „Versöhnung zwischen der Ordnung der gesellschaftlichen und der Wunschproduktion“ (S. 494) würde dann die Revolution bestehen.
Auch für diese anregenden Ideen ist zu sagen, dass sie bei Deleuze/Guattari in eine ziemlich spekulative Einheits-Metaphysik abdriften. Auch dazu später noch. Trotzdem eröffnet ihre Perspektive auf diese Einheit einen ganz anderen Denkhorizont, der Emanzipation als auf die Verhältnisse zwischen den Menschen selbst gerichtet sieht – auch auf das Verhältnis zur Natur, auch auf das gemeinschaftliche Verhältnis usw. – statt nur auf die Bedürfnisse der Individuen.
3. Wie überhaupt zum Anti-Ödipus auf deutsch einen Zugang gewinnen?
Es ist für Deutschsprachige ziemlich schwer, einen Zugang zum Anti-Ödipus zu gewinnen. Es stellt sich die Frage, wie man den Anti-Ödipus überhaupt lesen und verstehen kann, weil Deleuze/Guattari im Buch keinerlei Übersicht über ihren Gedankengang geben und auch die Unmenge an neuen Begriffen nicht erläutern, nur benutzen. In der Übersetzung sind, soweit ich bisher sehe, mindestens drei zentrale Begriffe sehr merkwürdig übersetzt – machines désirantes als Wunschmaschinen, coupure als Einschnitt, enregistrement als Aufzeichnung –, so dass ich zumindest der deutschen Übersetzung immer ein wenig misstraue. Des weiteren gibt es auf deutsch, abgesehen von kleineren und kürzeren Texten, eigentlich keine brauchbare Einführung zum Anti-Ödipus. Das wurde bereits öfter bemerkt, zum Beispiel hier: „Ein Buch zur Einführung zu empfehlen ist in diesem Fall etwas schwierig, weil sich alle uns vorliegenden Einführungen nur mit Gilles Deleuze auseinandersetzen und die gemeinsamen Werke mit Guattari nur am Rande diskutieren.“ (https://www.krass-mag.net/?glossar=body-without-organs)
Es gibt eine gute Einführung auf französisch: Sibertin-Blanc, „Deleuze et l’anti-Oedipe. La production de désir.“
Außerdem hilft es ungemein, Texte von Deleuze und Guattari aus dem Umkreis des Anti-Ödipus zu lesen, weil sie darin ihre Ideen oft leicht verständlich erläutern und vor allem auch ihre praktische revolutionäre Perspektive viel besser sichtbar wird:
Deleuze/Guattari/Jervis u. a.: Antipsychiatrie und Wunschökonomie, Merve, 1976.
„Deleuze und Guattari erklären sich“, in: Guattari, Mikropolitik des Wunsches, Merve, 1977.
Auf englisch: Die Seminare von Deleuze in den Jahren des Erscheinens des Anti-Ödipus (1971-1974): https://deleuze.cla.purdue.edu/seminars.
4. Fünf Rezeptionsstränge
Es hilft beim Verständnis des Anti-Ödipus, sich Aufschluss über die fünf wesentlichen Rezeptionsstränge zu verschaffen, aus und in denen das Buch gelesen wurde. Ich rede jetzt hier nur über die positiven Anschlüsse und Rezeptionen, und nicht über die verschiedenen Kritiken aus orthodox-marxistischer, psychoanalytischer etc. Perspektive, auch aus Richtung der Kritischen Theorie. Während die ersten vier Rezeptionsstränge sich eigentlich jeweils nur einen Aspekt des Anti-Ödipus herausgreifen und diesen aufbauen, fügt eigentlich erst der letzte Strang diese vier Aspekte zusammen und kann, wenn man so will, als eigentlicher Versuch der Weiterführung des Anti-Ödipus in der ganzen Komplexität seiner Anlage gelten.
Während das Buch im deutschsprachigen Raum zwischen 1980 und Anfang der 2000er Jahre eine intensive und begeisterte Rezeption erfahren hat, ist heute ungefähr seit der Finanzkrise 2008 etwas der Schwung raus.
1.Rein gesellschaftstheoretische Rezeption: Anschluss an die Kritik des Kapitalismus im Anti-Ödipus, mit den Stichworten: Deterritorialisierung/Reterritorialisierung, Kritik revolutionärer Organisation, Kritik der Manipulation, Flucht, Mikropolitik. Es ist insgesamt eher ein akademisches Theoretisieren des Kapitalismus ohne konkrete praktische Reflexion.
Beispiele:
Hardt/Negri: „Empire“
Katja Diefenbach: „Kapitalismus verstehen. Poststrukturalistische Mikropolitiken bei Guattari, Deleuze und Foucault“
Achim Szepanski: „Der Kapitalbegriff bei Deleuze/Guattari oder die Anarchie der Maschinen“, https://non.copyriot.com/der-kapitalbegriff-bei-deleuzeguattari-oder-die-anarchie-der-maschinen/
2. Ästhetische Rezeption: In der Praxis der postmodernen Literatur, des Films oder des Theaters ist die Kritik an der Repräsentation zentral gestellt worden. Entsprechendes gilt für Literatur-, Film- oder Theaterwissenschaft. Gemeint ist etwa das Theater, in dem im Spiel der Ausdruck einer „tiefen Seele“ dargestellt werden soll und die Handlungen „psychologisch“ durch das Innere der Charaktere motiviert sein sollen. Die Szene als ganzes soll einen tiefen Sinn haben und eine eindeutige Botschaft vermitteln. Entgegengestellt wird ein Theater der Ströme und Prozesse, in dem man gemeinsam produktiv ist, das Spiel fließen lässt, ohne dass alles unbedingt einen klaren Sinn ergeben muss, eventuell auch unter Auflösung der Grenze zum Publikum. Interessant ist dann eher, was passiert, was mit den Leuten passiert, der Prozess des Spiels und des Zuschauens.
3. Rezeption bei Netzaktivisten, Kreativen und Internet-Startups: Hier ist der Anschluss an die Maschinen-Begrifflichkeiten. Das ist verkoppelt mit den 90er und 0er Jahren und ihrer Internetbegeisterung (siehe dazu Diefenbach, http://future-nonstop.org/c/08a346a7ced9fa36f97a1d332b7ca9ae). Es geht um Maschinen, die sich verkoppeln können, aber nicht müssen, man bastelt und experimentiert mit den Verbindungen, die nicht vorher gesetzt und geplant sind, sondern sich im Prozess ergeben. Zufällige Verbindungen, ohne Plan, die dann spontan produktiv sind. Nichthierarchische, fluktuierende Ensembles von Individuen, aus deren momentaner Verbindung dann Energie und Produktivität entsteht. Stichworte: Maschine, Werden, Prozess, Anschlüsse. Es ist klar, dass dieser Rezeptionsstrang progressiv sein kann und auch oft ist (wikipedia, Netzaktivismus, Freiheit des Internets), aber sehr gut und schnell auch in eine neoliberale und kapitalistische Richtung abdriften kann bzw. ideologisch tatsächlich grundlegend für facebook, amazon und dergleichen war.
Beispiele:
Gerald Raunig: „Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung.“, siehe dazu https://transversal.at/transversal/1106/raunig1/de
Die Website http://transversal.at mit ihrem Motto „transversal texts ist Produktionsort und Plattform zugleich, Territorium und Strom der Veröffentlichung – die Mitte eines Werdens, das niemals Verlag werden will.“
Hierher gehört auch die medientheoretische und technikphilosophische Rezeption (Braidotti, Posthumanismus).
4. Anarchistisch-subkulturelle Rezeption: Hier ist das Hauptstichwort der Wunsch und die Wunschmaschine. Dies ist nur wenig eine Rezeption, die selbst Theorie produziert, immerhin geht es ja hier um die „Umsetzung in die Praxis“. Beispiele wären Technoszene, Drogenszene, Polyamourie. Es ist eine subkulturelle, praktische Rezeption, die ihre Projekte zugleich als politisch versteht, indem darin sozusagen praktisch der Ödipus überwunden werden soll und das ungehinderte Funktionieren und Verkoppeln der Wunschmaschinen Realität werden soll: Mit dem Strom gehen, sich mitnehmen lassen, nicht mehr blockieren, „es“ raus lassen. Sozusagen das Ausleben der ersten Sätze: „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es…“ (S. 7) Es ist gelebter antiautoritärer Hedonismus, dem allerdings jede skeptisch-kritische Haltung selbst schnell als negativ und repressiv erscheinen kann, weil sie eben die Ströme der Wunschmaschinen blockiert.
5. Marxistische Rezeption: Es gibt schließlich eine marxistische Rezeption, die die vergangenen vier Stränge versucht, gemeinsam zu denken und weiterzuführen, und dies auch explizit als marxistische Theorie und notwendige praktisch-revolutionäre Perspektive versteht. Es verbindet also Kapitalismuskritik, Repräsentationskritik, Prozess/Basteln/Rhizomatik und die hedonistisch-antiautoritäre Kritik des Ödipus.
Aus meiner Sicht ist dieses zugleich theoretische und praktische Feld dasjenige, in das auch Deleuze und Guattari ihre Theorie gestellt haben wollten. Das heißt, sie haben sich eigentlich nicht außerhalb der revolutionären Bewegung, des Klassenkampfes, des Marxismus verortet, sondern eher als Teil davon, der allerdings einige Kritiken formuliert sowie notwendige Ergänzungen um „Wunschpolitik“ fordert. Jedenfalls wollten sie die Arbeiterbewegung nicht zerschlagen, wie sie immer wieder hervorheben: „Zum zweiten haben wir keineswegs die Bedeutung der vorbewußten, in der Infrastruktur begründeten Klassen- und Interessenbesetzungen bagatellisiert; wir messen ihnen aber um so mehr Bedeutung bei, als sie in der Infrastruktur auf ganz andersartige libidinöse Besetzungen hinweisen“ (S. 492). Diese Richtung wird insbesondere an dem oben bereits angegebenen Buch „Antipsychiatrie und Wunschökonomie“ deutlich, in dem Deleuze und Guattari solidarisch mit anderen marxistischen Strömungen diskutieren, auf einem Kongress, der explizit die antipsychiatrische Praxis diskutiert hat.
Zu dieser Rezeption gehören: Marcello Tarì: „Autonomie !“, 2011.
Guillaume Sibertin-Blanc: „Deleuze et l’anti-Oedipe. La production de désire“, 2010.
Frieder Otto Wolf: „Neoliberaler Anti-Ödipus“ (d. h. Wolf kritisiert die neoliberale Rezeption des Anti-Ödipus und hebt die ursprüngliche antiautoritäre Impuls des Buchs hervor).
Nachtrag 15.02.2021:
6. Queer Theory: Julian Volz hat mich darauf hingewiesen, dass es über diese fünf Rezeptionsstränge hinaus auch noch eine Rezeption in der Queer Theory gibt, wobei hiermit eine radikale Queer Theory gemeint ist, die nicht um die Anerkennung zum Beispiel des homosexuellen Begehrens kämpft, sondern für „die Zersetzung aller sexuellen und geschlechtlichen Normen“ (Julian Volz). Das betrifft, so Volz, vor allem das Buch „Das homosexuelle Begehren“ von Guy Hocquenghem, das an die Kritik der Psychoanalyse (und deren heterosexuell-familiärer Kategorien) und die Überlegungen zu „nicht zwei, sondern n … Geschlechter“ (S. 381) im Anti-Ödipus anknüpfte.
Siehe zu Hocquenghem das Interview von Volz mit Antoine Idier: https://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2019/89866/pdf/tm1118.pdf, S. 10
Nachtrag 10.11.2021:
7. Insurrektionalismus: Außerdem fehlte bisher noch die Rezeption in insurrektionalistischen Theorien (vgl. Achim Szepanski, Andrew Culp).
5. Die reflektierte Verrücktheit („Schizophrenie“) dieser Philosophie
Bei der Lektüre des Anti-Ödipus muss man sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass Deleuze/Guattari eine ganze Reihe von neuen Begriffen „erfinden“, die keine Analyse bekannter Gegenstände darstellen, sondern in einem gewissen Sinn den Gegenstand mit der Erfindung ihres Begriffs erschaffen. Ich meine Begriffe wie Wunschmaschine, Ödipus, organloser Körper, Ströme, Schizophrenie, Sozius, Erde, Körper des Despoten, Residualsubjekt, Axiomatik …
Sie würden es wahrscheinlich eher so sagen, dass es sich nicht um Begriffe handelt, sondern sie mit Worten spielen und versuchen, bestimmte Zusammenhänge und Probleme greifbar und sichtbar zu machen. Sie sprechen mit diesen neuen Begriffen auch nicht über bisher bekannte Gegenstände (abgesehen davon, dass sie gewisse Fakten wie psychoanalytische Therapie, Kunstwerke, Zitate, Entstehung des Kapitalismus und dergleichen in ihre Reflexion einfließen lassen), sondern sie sprechen mit diesen neuen Begriffen eben über Gegenstände, die außerhalb ihrer Reflexion nicht sichtbar sind und erst zugänglich sind, wenn man sich in ihre Reflexion hineinbegibt, also erst durch ihre erfundenen Begriffe zugänglich werden.
Diese Begriffe werden nicht definiert und nicht durch Beispiele erläutert, sondern man muss sie durch ihren Gebrauch im Anti-Ödipus verstehen lernen.
Sie begründen ihre Distanz zu den gewöhnlichen Begriffen allerdings systematisch durch ihre Sprachkritik: Sie versuchen eine antiautoritäre/nomadisierende Theorie entwickeln und müssen dafür auch selbst in der Form ihrer Theorie versuchen, sich der Recodierung / Einverleibung ihrer Theorie durch den Kapitalismus zu widersetzen. Es geht um die Kritik von normierten, codierten, kapitalistisch funktionalen, ödipalen, repräsentativen Begriffen, der man nur durch eine Sprache begegnen kann, die selbst ständig im Fluss ist, ständig decodiert oder sich gegen Recodierungen sperrt. Die ständige Erfindung neuer Begriffe oder das Erschaffen einer eigenen Welt, die sozusagen unabhängig von der realen ist, liegt daher systematisch in ihrer Theorie begründet. Es ergibt sich letztlich, ähnlich wie bei Heidegger (Dasein, Jemeinigkeit, existential, Sorge, Man, …), ein Jargon, den man erstmal lernen muss, aber wenn man einmal darin zuhause ist, kann man sich darin dynamisch wie in einer eigenen Welt bewegen und die andere reale Welt in einem ganz neuen Licht sehen, obwohl man stets auch von ihr frei ist und über sie hinaus ist (nämlich in der Welt der Wunschmaschinen, Ströme, des organlosen Körpers …).
Man kann einwenden: Autoren wie Kant, Hegel, Marx usw. entwickeln auch eine ganze Reihe von Begriffen, die man erst einmal lernen muss. Allerdings gehen diese von allgemein bekannten Phänomenen aus, die sie auch nachvollziehbar beschreiben, und entwickeln ihre Begriffe, um diese Phänomene adäquat analysieren zu können und die entsprechend helfen, die reale Welt zu verstehen und sich in ihr zu verhalten.
Gegen eine „rationale“, „klare“ Lektüre setzen sie sich sozusagen non-stop zur Wehr. Auf der zweiten Seite, nachdem sie das Problem des Ödipus aufgeworfen haben, fragen sie, wie man es erklären kann und fragen weiter: „Genügt dazu schon die Fahrradlampe und der Hintern meiner Mutter? Gibt es nicht wichtigere Fragen?“ (S. 8) Um dann im Wesentlichen eine unsinnige „Maschine“ zu skizzieren, in der man Steine zwischen verschiedenen Hosen- und Jackentauschen zirkuliert. Man kann dazu sagen: völlig verrückt, man kann sagen: haha lustig, aber der Punkt ist natürlich, dass das absichtlich genau so hier steht, die Erwartung nach einer Erläuterung des Ödipus-Problems irritieren will, und so auf eine „anti-ödipale“ Lektüre abzielt, in der es eher um das Erlebnis des Lesens, den Prozess, der sich auf keine fixe Erwartung, keine systematische Theorieproduktion einlässt, sondern sich einfach in den Fluss des Lesens begibt, von der einen Reflexion über verschiedene Irritationen und Sprünge bis zur nächsten Kritik und so weiter. Es geht darum, dass der Anti-Ödipus aus systematischen Gründen irrational sein will, er ist absichtliche, objektive Verrücktheit, sozusagen Theorie als Rausch und Wahn, weil nur so den Fallstricken des Ödipus entkommen werden kann.
„Schizophrenie“ ist daher nicht nur Gegenstand des Buchs, sondern diese Philosophie ist auch eine philosophische Reflexion der Schizophrenie und versucht – zumindest streckenweise – in ihrer Form und Denkweise tatsächlich schizophren zu sein und nicht mehr auf die ödipalen, repressiven Strukturen von Philosophie und Sprache zu achten. Man muss also diese Theorie als verrückte, als Wahn lesen, d. h. sie produzieren eine Theorie als schizophrenes Wahngebilde, in dem man nur drin sein kann, und das von außen als völlig verrückt erscheint (bzw. auch völlig verrückt sein will, aber genau darin liegt eben die Emanzipation). Man kann in dieser Theorie im Prinzip nur drin sein, oder draußen, d. h. man kann sie nur lesen und verstehen, wenn man sich in diesen Rausch mit hineinbegibt – selbst auch wenn man in kritischer Absicht liest –, man kann sie aber nicht lesen im Interesse, sie einfach zu benützen und nicht zu affirmieren – dann bleibt man eben außen vor.
6. Beschränkte Emanzipation in kulturellen Nischen
Dies führt den Punkt 5 weiter.
Auch die Praxis, um die es im Gefolge des Anti-Ödipus geht, ist letztlich von der realen Welt getrennt. Sie versucht, ihren eigenen Strom, ihr eigenes Funktionieren in Gang zu setzen und dadurch die Emanzipation zu erreichen: mikropolitische Flucht, Frau-Werden, Tier-Werden, Ödipus entkommen, nichtrepräsentative Sprache, Einheit mit der Natur usw. All diese Praxen, die konkret an den Anti-Ödipus anschließen, sind jedoch insofern objektiv schizophren, als sie sich ihre eigene kleine Welt erschaffen, die die reale Welt zwar sieht, aber sich von ihr nicht tangieren lässt, vielleicht mit ihr spielt und ein bisschen so tut, als wäre sie zurechnungsfähig, aber eigentlich in ihrem eigenen kleinen Strom auf ihre „neue Erde“ (S. 415). In realen Situationen bringt es einfach seine elternlosen und zölibatären Maschinen, sein Tonband und sein kleines Fahrrad (S. 70) mit (was auch immer das genau bedeutet) und hat seine „kleine Freude“ (S. 146) an der Irritation des Gegenüber, die ihr andererseits auch wieder egal ist, weil es neue Objekte seiner kleinen Freude gefunden hat.
Diese Praxis des Anti-Ödipus kennt keine Emanzipation von gesellschaftlichen Bedingungen wie Privateigentum, Kapital, Familie. Natürlich sagen Deleuze/Guattari dies immer und wollen es natürlich auch. Es bleibt aber ein Lippenbekenntnis und der Theorie im Grunde äußerlich; dies ist schon daran zu sehen, dass sie weder über konkrete nichtkapitalistische ökonomische Verhältnisse, noch auch über andere Familienverhältnisse nachdenken, sondern ihre Utopien immer im Nebulösen und Bildhaften verbleiben: „neue Erde“, „eine Maschine aus Chlorophyll oder aus Protoplasma sein“ (S. 8).
Deleuze/Guattari sind offenbar so fasziniert vom Kapitalismus und seiner Logik der Deterritorialisierung/Reterritorialisierung, dass sie die Revolution nicht mehr als wesentlichen Gegensatz zu ihm darstellen können, sondern nur mehr als ein Zu-Ende-Führen der geschichtlichen Entwicklung, die im Kapitalismus eigentlich schon fast vollständig da ist. Indem der Kapitalismus in seinem Prinzip selbst deterritorialisierend ist, muss man eigentlich fast nichts mehr tun, um wirklich zur Befreiung zu gelangen. Man muss dem Ödipus und dem Kapitalismus nur mehr einen kleinen „Schubs“ (S. 415) geben, damit die „neue Erde“ (ebd.) wirklich entsteht.
Vergleiche dazu die dazugehörigen Ideen der Mikropolitik, der kleinen Brüche, der kleinen Fluchten, der kleinen Risse usw., in der seltsamen Hypostasierung, dass präzise in diesem „Molekularen“ (Mikro-Ebene) und nicht im „Molaren“ (gesellschaftliche Groß-Verhältnisse) dasjenige passiert, was die Revolution ausmacht. Sie sagen zwar, dass der Kampf im Molaren auch wichtig ist, hebeln dieses Bekenntnis (das darum ein Lippenbekenntnis) ist, durch das Argument wieder aus, dass der Kampf im Molaren aber nur dann wirklich gelingen kann und nicht autoritär wird, wenn der Kampf im Molekularen gelingt. Es findet eine eigentümliche Verschiebung vom Molaren ins Molekulare statt. Letztlich sagen sie zum Kampf im Molaren nichts. Die Mikropolitik ist deshalb eine eigenartige Totalisierung und Hypostasierung von ganz unmerklichen, kaum spürbaren Veränderungen. Warum Deleuze/Guattari sich das so anmaßen, dass diese kleinen Brüche, kleinen Fluchten, kleinen Risse usw. in dieser „Molekularität“ den eigentlich wesentlichen Kampf darstellen, kann man nur durch ideologiekritische Analyse nachvollziehen.
Der Anti-Ödipus trägt darum nicht nichts zur Emanzipation bei, wie ihm oft von Marxisten vorgeworfen wird. Ihm wird oft vorgeworfen, reine neoliberale Ideologie zu sein. Im Gegenteil hatte und hat er eminente Bedeutung für emanzipatorische Praxen, im Gegensatz auch zu anderen poststrukturalistischen Büchern, die vor allem akademisch interessant sind (Derrida, Foucault). Innerhalb der oben skizzierten Rezeptionsstränge konnte und kann der Anti-Ödipus emanzipatorischen Praxen eine theoretische Grundlage bieten: antiautoritäre antikapitalistische Organisierung (radikale Linke von heute), anti-repräsentative Ästhetik (Theater, etc.), Netzaktivismus (wikipedia u. ä.), Techno-Subkultur, gender queering.
Dies sind daher immer nur kulturelle Nischen, und die mikropolitische bzw. molekulare Emanzipation in diesen Nischen stellt die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Nischen und auch dieser molekularen Emanzipation nicht infrage, auch wenn sie beansprucht, über diese Infragestellung dieser Bedingungen erhaben zu sein. Zugleich kann diese Emanzipation mehr oder weniger nur dann stattfinden, wenn man sich nicht mit grundlegend proletarischen Problemen auseinandersetzen muss. Das heißt: Man kann diese Emanzipation trotzdem versuchen, und es ist auch nicht falsch, sie dann zu versuchen, und es spricht auch nicht gegen diese Emanzipation, wenn man sie nur unter finanzieller Absicherung versuchen kann. Problematisch ist jedoch die Anmaßung, dass diese kulturelle Emanzipation dann die eigentlich wichtige ist.
7. Grundproblem: Spinozismus (abstrakter Prozess und undifferenzierte Substanz)
In Bezug auf die philosophische Grundausrichtung des Anti-Ödipus kann man das Grundproblem als den affirmativen Spinozismus von Deleuze und Guattari benennen. Der Anti-Ödipus bezieht sich explizit auf Spinoza und wenn man Spinozas „Ethik“ ein wenig kennt, dann spürt man die Bezugnahme deutlich. Es ist aber sozusagen wenig verwunderlich, dass es mit dem Anti-Ödipus ein grundlegendes philosophisches Problem gibt, wenn man an einen Denker anknüpft, der die eine Substanz, genannt Gott/Natur, zu deren innerem Funktionieren man sich durch eine höhere, spekulative Anschauung erheben sollte, zum Zentrum seines Denkens gemacht hat. Deleuze/Guattari verstehen ihren Anschluss an Spinoza als „materialistisch“, aber dies ist mindestens ein sehr eigenwilliger Materialismus und hat wenig mit dem Marxschen zu tun.
Ironischerweise – denn im Poststrukturalismus wird Hegel hart als Hyperrationalismus kritisiert (Hegel kommt im Anti-Ödipus nicht vor) – ist der Anti-Ödipus damit fast ein Hegelianismus, da Hegels Philosophie in wesentlichen Aspekten (Substanz, Geist, spekulative Anschauung) selbst spinozistisch ist. Das ist ironisch, weil die französische Theorie ab den 1960er Jahren (Althusser, Deleuze, Negri) programmatisch Marx auf Spinoza statt auf Hegel bezogen hat, um Marx nicht mehr metaphysisch, sondern emanzipatorisch zu lesen. Sie fallen aber selbst fast in einen affirmativen Hegelianismus hinein. Was dieser Austausch von Hegel gegen Spinoza übersehen hat, ist, dass der Bezug auf Hegel bei Marx und auch im (kritischen, antiautoritären) Marxismus nicht affirmativ ist, sondern negativ – so etwa bei Luxemburg, Krahl, Horkheimer.
Dieser Spinozismus ist nun an zwei Elementen des Anti-Ödipus zu kritisieren:
a) Die Hypostasierung der prozessierenden Abstraktion zur ontologischen Wahrheit. Der Prozess der Abstraktion – die Deterritorialisierung, die Decodierung – ist zugleich das Sein, letzte Realität, und das Ideal, das wiederhergestellt werden soll. Der „Wunsch“ ist nichts konkretes, was sich irgendwo verorten lässt oder konkrete Beziehungen und Aktionen eingeht, sondern er „ist“ einfach und „fließt“.
Beispiel: „Die große Linie führt zum organlosen Körper, wo sie entweder die Mauer überschreitet, auf die molekularen Elemente auftrifft und derart wahrhaft das wird, was sie von Beginn an war, schizophrener Prozeß, reiner schizophrener Deterritorialisierungsprozeß“ (S. 363).
Es ist merkwürdig, dass Deleuze/Guattari es bei all ihrer Freud-Kritik verpassen, den Kern dessen zu kritisieren, an dem Freud bürgerlicher Wissenschaftler ist, nämlich dass er die libido in ihrer Abstraktheit als ontologisches Prinzip hypostasiert. Umgekehrt loben sie an Freud gerade, dass er das aufgedeckt hat. Freud begründe „die Wunschökonomie, indem er die quantitative Libido als Grund einer jeden Repräsentation der Objekte und Ziele des Wunsches bloßlegt; Freud deckt die subjektive Natur oder das abstrakte Wesen des Wunsches auf […] Freud ist demnach der erste, der den Wunsch schlechthin bloßlegt […]. Und gleich der subjektiv-abstrakten Arbeit ist der subjekt-abstrakte Wunsch unauflöslich mit einer Deterritorialisierungsbewegung verbunden“ (S. 386).
(Die Verbindung zu Spinoza ist hier der conatus.)
b) Die Hypostasierung der selbstbezüglichen Substanz in ihrer Einheit und Undifferenziertheit als das allem Zugrundeliegende. Vergleiche die Themen der „Selbsterzeugung des Unbewussten“ und der allem zugrundeliegende Sozius/Gesellschaftskörper. (Das ist bei Spinoza die eine Substanz des deus sive natura.)
Beispiel: „Kategorisch und absolut ist allein der Gesichtspunkt des Zyklus, weil er zur Produktion als Subjekt der Reproduktion, das heißt zum Prozeß der Selbsterzeugung des Unbewußten führt (Einheit von Geschichte und Natur, von Homo natura und Homo historia).“ (S. 356)
Dieser Aspekt wird auch beispielsweise deutlich, wenn Deleuze/Guattari das Vermögen des Schizophrenen loben, die zugrundeliegende Einheit von Mensch und Natur zu erfassen und zu erfahren (vgl. S. 8), oder dass man im paranoischen Wahn (z. B. Rassismus) die Kollektive ganz unmittelbar als sich selbst erfährt, was aber eben die Wahrnehmung der real zugrundeliegenden undifferenzierten Kollektiv-Substanzen eröffnet.
8. Affirmative/unkritische Logik
Durch das ganze Buch zieht sich eine dreigliedrige, affirmative Logik hindurch:
1. Konnektive Synthese – Produktion – Wunschmaschinen – Erde – Wilde – Mythos
2. Disjunktive Synthese – Aufzeichnung – organloser Körper – Despot – Barbaren – Tragödie
3. Konjunktive Synthese – Konsumtion – Subjekt – Kapital – Zivilisierte – abstrakter Wunsch
Diese dreigliedrige Logik ist die innere, logische Organisation aller ihrer Überlegungen, die sich bei den verschiedenen Gegenständen in diesen drei Schritten vollziehen. Es ist im Prinzip eine spezifische dialektische Trias, und diese Logik wird von ihnen als ontologisch angenommen.
Diese drei Synthesen haben eine innere Reihenfolge der Entwicklung. Jede frühere ist in der je späteren Stufe enthalten. Beispielsweise sind die „Erde“ und der „Despot“, d. h. frühere Stufen der Geschichte, in der heutigen „Zivilisation“ enthalten.
Eigentlich handelt es sich um eine spezifisch kapitalistische Logik, und Deleuze/Guattari stellen sie auch als solche dar. Eigentlich handelt es sich um eine spezifisch kapitalistische Logik, und Deleuze/Guattari stellen sie auch als solche dar. Man könnte also sagen, sie sind auf dem basalen Niveau der Logik ihrer Theorie nicht kritisch, sondern affirmativ; anders gesagt: Sie ontologisieren die kapitalistische, dialektische Logik zu einer überhistorischen Logik des Seins selbst.
9. Theorie des Kapitalismus im Anti-Ödipus ist bloß Theorie der kapitalistischen Kultur (das ist nicht falsch, aber ein quid pro quo)
Es scheint so, als würden Deleuze und Guattari in Teil III eine komplexe Theorie des Kapitalismus entwickeln. Allerdings beschränken sie sich dabei auf die Paraphrase von Überlegungen hauptsächlich aus dem „Kapital“ von Marx, ohne das aber tatsächlich als ökonomische Theorie zu lesen. Im Anti-Ödipus geht es nicht um konkrete ökonomische Fragen wie die Struktur und das Funktionieren von Geld, relativer Mehrwertproduktion oder Grundrente, oder um soziale Zusammenhänge wie die Klassen und ihre soziale Lage, oder um die Ursachen und den Verlauf von Krisen. Emprisch-soziologische Analysen (und ich meine keine Statistiken) fehlen völlig, z. B zur Lage der Arbeiterklasse, empirische Bedürfnisstruktur, Wohnsituation, Sektoren von Arbeit, Bildungschancen.
Was Deleuze/Guattari in diesem Teil III machen, ist keine ökonomische Theorie, sondern zweierlei anderes:
a) Eine philosophische Interpretation des „Kapital“, wo bei sie Marx‘ Theorie in ihr Schema von Erde/Despot/Kapital sowie in ihr Prinzip der Deterritorialisierung/Reterritorialisierung bringen, ohne allerdings wie gesagt konkret ökonomisch zu argumentieren oder auch nur eine Argumentation von Marx konkret nachzuvollziehen. Diese philosophische Interpretation ist zwar spannend und erhellend, aber man kann das „Kapital“ zum einen nicht durch philosophische Prinzipien reinterpretieren, weil es in und aus der komplexen Wirklichkeit arbeitet, und zum anderen nicht auf ein zentrales Prinzip reduzieren, weil es im „Kapital“ eine ganze Menge von verschiedenen Strukturen und Logiken gibt (z. B. Preis, Umlauf, Geld als Geld; Reproduktion des Gesamtkapitals; Durchschnittsprofitrate).
b) Es ist aber vor allem eine kulturalistische Deutung des Kapitalismus. Damit meine ich, dass sie die kapitalistische Ökonomie als eine Kultur deuten, wobei sie dabei glauben, als würden sie wirklich die kapitalistische Ökonomie analysieren. Aber die Art, wie sie die kapitalistische Ökonomie analysieren, ist bloß als eine Kultur. Stichworte: Bilder, Sprache, Figuren, Repräsentation, Glaube.
Sie projizieren also die kapitalistische Kultur auf die Ökonomie. Das ist allerdings nicht falsch und eigentlich sehr interessant und aufschlussreich. Es wird allerdings in dem Moment falsch, in dem man es als eine Analyse „des“ Kapitalismus lohnt, und insofern ist auch weird, dass sie die entsprechenden Passagen als Anschluss ans „Kapital“ deklarieren.
10. Ökonomiekritisch verkleideter Kulturalismus/Subjektivismus
Dies knüpft jetzt direkt an das vorherige (8.) an.
Ihre Theorie wirkt in vielen Teilen wie eine Ökonomiekritik, die zugleich kritisch das Verhältnis zum Individuum bzw. dem Wunsch analysieren will. Mit dem Argument, dass es nur eine Ökonomie gibt und der Wunsch nicht in einem anderen Feld als die Gesellschaft existiert, sondern dass er das gesellschaftliche Feld selbst besetzt, kommen sie allerdings zu einem Kulturalismus/Subjektivismus, also einer Hypostasierung der Kultur / des Subjekts, die sich gerade durch Marx und seine Kapitalismuskritik begründet, sie aber als rein Kulturkritik/Subjektkritik umdeutet. Das ist in gewisser Weise perfide, weil sie eben von Marx ausgehend und im aufrichtigen Bewusstsein, Marx kritisch weiter zu führen, die Ökonomiekritik von Marx hinauswerfen, einen Kulturalismus/Subjektivismus errichten und diesem zugleich das Gewand der objektiven Richtung auf die Ökonomie geben.
Zum Vergleich mit Adorno: Bei Adorno ist es anders, er analysiert sehr weitgehend die Ökonomie und objektive Verhältnisse. Allerdings ist es bei ihm so, dass er durch diese objektive Richtung eigentlich nur eine bestimmte subjektive Haltung (subtile Reflexion des kritischen Theoretikers) herstellen will. Adorno hat also einen objektivistisch begründeten Subjektivismus, aber er verkleidet seinen Subjektivismus nicht mit einer objektiven Richtung.
Anhang: Äquivalenzen zwischen Anti-Ödipus und Phänomenologie des Geistes
Eine Art Themen-Schlüssel zu den verwirrend vielen Themen und ihren unklaren Zusammenhängen kann Hegels Phänomenologie des Geistes bieten. Insofern beide Bücher die bürgerlich-kapitalistische Kultur behandeln, arbeiten sie auf demselben Feld. Man kann eine ganze Reihe der Themen des Anti-Ödipus in der Phänomenologie des Geistes wiederfinden. Weil letztere viel klarer strukturiert ist, auch die Beziehung zwischen den Teilen klar herausarbeitet und schließlich keine merkwürdigen quid pro quos macht, kann man Hegel benutzen, um sich die Gegenstände des Anti-Ödipus in ihren Zusammenhängen zu erschließen. Es setzt natürlich eine gute Kenntnis der Phänomenologie voraus.
Eine kleine, vorläufige Übersicht:
Familie (Vater / Mutter / Kind) => „Die sittliche Welt“: der Mann und das Weib, Bruder und Schwester
Mythos, Tragödie => „Die sittliche Welt“: das göttliche Gesetz, die Erde
Despot => „Der wahre Geist“: Regierung; „Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“: Monarch
Ödipus => Der wahre Geist“: Entstehung des Selbstbewusstseins durch das Schicksal (Deterritorialisierung)
Kapitalismus (d. h. kapitalistische Kultur) => „Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“: Armut und Reichtum
Basteln, Disjunktion => „Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“: Sprache der Zerrissenheit
Grenze, Angst, Grausamkeit => „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ (ich denke vor allem an den Tod und den Schrecken)
Anti-Ödipaler Durchbruch, neue Erde (Gemeinschaft), Dämonisches => „Das Gewissen“ (Gemeinde, das Böse)
Schizophrenie/Paranoia => „Die Religion“ (d. h. Selbstreflexion der Substanz)