Das „Ideal“ einer Ästhetik, die radikal zeitgemäß ist, und die kompromisslos das „Sein“ oder die Stimmung, Erfahrungsweise, „Totalität“, „Identität“ dieser unserer Zeit aufzeigt, – und die sich zwar nicht anbiedert oder auf Massenerfolg abzielt, aber von uns [oder bestimmten revolutionären Teilen der Gesellschaft] unmittelbar als geil/Erlebnis/genau treffend/notwendig/schlagend erfahren wird, ist eine Kunst, …
… ist eine Kunst, die radikal entnüchtert ist, die Gewalt und Zwangserfahrung unmittelbar darstellt (und nicht als Action-Movie oder Splatter, sondern die Gewalt in ihrer Härte und Wirklichkeit), die die Kaputtheit der Gegenwart darstellt, die negativ ist, die abgeklärt das heißt ohne auf eine Versöhnung zu zielen die konkrete Entfremdung in ihrer Beschissenheit darstellt, die daher auch nicht „irgendwohin will“, irgendeine Utopie dagegenstellt (es sei denn als die praktische Tätigkeit, in den Verstrickungen und Zwangszusammenhängen konkret sich zu widersetzen, konkret sich zusammenzutun, konkret zu kämpfen, und auch hier wieder abgeklärt und ohne auf ein Einlenken/Verständnis/Versöhnung der Herrschenden zu rechnen).
Es ist eine radikal nichtteleologische Kunst, in der es keinen Spannungsbogen auf ein erfüllendes oder kathartisches Ende gibt, also weder als Happy End, noch als heroisches Scheitern, noch als düstere Dystopie, dass alles den Bach runtergeht und das Böse herrscht. Es gibt keine Heldinnen, die ihre Identität trotz aller Schicksalsschläge durchhalten, und keine widersprüchlichen Persönlichkeiten, die in ihren pushbacks und Kämpfen dann doch wieder stärker werden, die aber auch nicht die Nichtigkeit des Menschen durch ihr notwendiges Scheitern an der Übermacht des Bestehenden beweisen.
„Negativ“ heißt auch nicht düster, nihilistisch, pessimistisch, ohnmächtig, ausweglos, unentrinnbar, sondern der präzise Punkt der Erfahrung, an dem die mannigfaltigen Zwangsverstrickungen unserer Zeit konkret aufgezeigt, beschrieben und entfaltet werden; also „positivistisch“ und abgeklärt in ihrer fucking beschissenen Realität beschrieben werden; ohne dass man sich damit zufrieden gibt, ohne dass diese Zwangsverstrickungen wiederum ästhetisiert werden: sei es faschistoid, pessimistisch, als heroisches Ertragen, oder im edlen Feinsinn derjenigen, die diese Zwangsverstrickungen wahrzunehmen vermag.
Es ist die Negativität, wie sie Culp in „Dark Deleuze“, Virginie Despentes in „Vernon Subutex“, Preciado im „Kontrasexuellen Manifest“, Luise Meier in ihrer Beschreibung des „Cut-Up“ in „Mrx Maschine“ beschreiben. Und es ist eine Negativität, die zugleich immens empathisch und im Detail empathisch gegenüber den konkreten Lebenswirklichkeiten der Menschen (Unterdrückung der Geschlechtlichkeit, der kulturellen Herkunft (in all ihrem Eigensinn), Nichtanerkennung von Unterdrückungserfahrungen, pausenloser Selbstzwang/Anspannung der neoliberalen urbanen Arbeitssubjekte, Chauvinismus gegenüber Obdachlosen oder Behinderten, …) ist.
Frühere Stufen einer radikalen Ästhetik in einer anderen Gegenwart sind der Brecht von Mahagonny oder des Fatzer, der Döblin von Berlin Alexanderplatz, oder etwas später Samuel Beckett, oder die Einstürzenden Neubauten der 80er. Zeitgenössische Stufen sind zum Beispiel der Film „Tenet“ von Christopher Nolan, „Vernon Subutex“, der radikale subkulturelle kompromisslose Techno, David Foster Wallace, Florentine Holzinger, (Anne Imhof ?), der Film „Nous disons révolution“ von Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz.
Gegenüber dem fortdauernden Streit über die revolutionäre Kunst zwischen Realismus und formkritischer Kunst („Expressionismus-Streit“) ist diese radikale Ästhetik eine, die in gewissem Sinn eine Synthese ist. Diese Kunst ist extrem genau in ihrem kritischen Blick auf gegenwärtige Verhältnisse und ihre Gewalterfahrung, und sie ist extrem reflektiert in ihrer Formkritik von Kunst. Es ist allerdings nicht eine „Aufhebung der Kunst“ in dem Sinne, dass die Kunst einfach ins Leben überführt wird, es wäre hier eher zu diskutieren, ob das eine sinnvolle revolutionäre Forderung ist, dass es im Kommunismus keine Filme, Musik, Romane gibt, die zum Vergnügen der Menschen da sind.
Es geht schließlich auch nicht darum, in dieser Kunst sich „rational rezipierend“ vor ein Stück Roman oder ein Stück Theater zu setzen und die Erkenntnis der Künstlerin versuchen zu verstehen, oder bürgerlich-kontemplativ einen Beckett oder eine Holzinger in ihrer Aura der Radikalität und Kompromisslosigkeit zu genießen (und damit zu verdinglichen), oder sie kunstbeflissen in eine Linie der Kunstgeschichte einzuordnen, sondern es geht zunächst mal ganz roh und basal darum, dass diese Kunst einfach verdammt viel Spaß macht, dass sie eine eigene fixe Art der Anziehung, dass es uns eine Notwendigkeit ist, sie zu rezipieren, und dass wir verstehen, dass man diese Romane, diese Filme machen muss, weil wir sie vielleicht auch selbst machen oder gerne machen würden, wenn wir die nötige Bildung, Fähigkeiten und Zeit hätten. Diese Kunst wollen wir doch nicht „aufheben“ und ins Leben überführen.
Ästhetische Elemente sind exemplarisch (und kein einzelnes Element kann hier natürlich für irgendetwas stehen, da es immer auf seinen Zusammenhang und die Form seiner Darstellung ankommt): Kaputte, verlassene Ruinen aus Stahlbeton; harter, dunkler Techno-Bass; Strukturen des Zerfalls; im Film schnelle, harte Schnitte mit hohem Tempo.
Diese radikale gegenwärtige Ästhetik ist zugleich revolutionär – nicht dadurch, dass sie Menschen von der Revolution überzeugt (Propaganda), oder über die Schlechtigkeit der Welt informiert (dokumentarisches Theater, Milo Rau, NSU-Monologe u.ä.), sondern dadurch, dass sie in ihrem realistischen Aufzeigen von Konkretion und in ihrer radikalen Formreflexion eine negative ästhetische Erfahrung ermöglicht: Das heißt, dass sie uns berührt, dass wir nach dem Stück nicht mehr dieselben sind wie davor, dass sie das Potential hat, Menschen etwas aufzuzeigen, eine neue Wahrnehmung zu ermöglichen, sie mit sich selbst auf andere Art zu konfrontieren. Der theoretisch wesentliche Gedanken für diese negative ästhetische Erfahrung ist, dass in dieser radikalen Kunst die Entfremdung von uns selbst in einer Erfahrung infragegestellt wird; dass die Verdrängung des Unbewussten durch das Ich kurzzeitig aufgehoben ist; dass wir in einem kurzen Moment, dem der Kunst, den Kommunismus so erfahren können, dass wir eine Vorstellung davon haben, wie es ist, wenn wir über uns selbst und die Gesellschaft bestimmen [d. h. nicht: beherrschen] können – wie es also sein könnte, wenn wir frei sind.