Verbindungslinien zwischen Krahl und dem „Anti-Ödipus“

Es ist alles andere als weit hergeholt, Krahl und Deleuze/Guattari zusammenbringen zu wollen. Elmar Kraushaar sagt: „Krahl war, wenn ich das so sagen darf, in gewisser Weise der deutsche Hocquenghem.“ Der Deleuze-Schüler Éric Alliez bezieht sich auf Krahl und hat die Verbindung zwischen Krahl und Deleuze in einem Seminar an der Uni Paris Saint-Denis diskutiert. Auch Antonio Negri zitiert Krahl und hat einiges mit ihm gemeinsam.

Ebenso gleichen sich die Kontexte beider Theorien: Beide versuchen eine genuin antiautoritäre und praktisch revolutionäre Theorie für die historisch aktuellen Bedingungen zu entwickeln, unter expliziter Kritik des traditionellen Marxismus wie auch des liberalen bzw. ödipalen Subjekts, und unter durchgehender Reflexion der emanzipatorischen Impulse der 68er-Bewegung.

Krahl ist bereits 1971 gestorben. Er konnte weder den 1972 erschienen „Anti-Ödipus“ zur Kenntnis nehmen noch hat er irgendwie etwas von den Vorarbeiten dazu in Vincennes mitbekommen. Dennoch gibt es bei Krahl in mindestens zwei Themen explizite Anknüpfungsmöglichkeiten an den revolutionären Poststrukturalismus des „Anti-Ödipus“:

1. Krahls Theorie der wissenschaftlichen Intelligenz als Arbeitsteil des Gesamtarbeiters, wie er sie in den „Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein“ entwickelt. Die Tätigkeit der wissenschaftlichen Intelligenz unter den neuen kapitalistischen Bedingungen beschreibt Krahl nach dem Bild einer Fabrik – als arbeitsteiligen Zusammenhang der geistigen Arbeiter*innen, die nicht als Einzelne, sondern als Kollektiv produzieren. Dabei kritisiert Krahl explizit das „Humboldtsche Bildungsideal“ und die Idee der einzelnen Intellektuellen als Subjekt ihres Produkts. Krahl beschreibt also eigentlich einen kollektiven Körper der wissenschaftlichen Intelligenz oder eine Maschinenstruktur der wissenschaftlichen Intelligenz, in der gerade die Beziehungen zwischen den Intellektuellen entscheidend ist. Ebenso kritisiert er so die liberale Hochschätzung geistiger Arbeit als einer „höheren“ Arbeit als der körperlichen Arbeit, sondern die wissenschaftliche Intelligenz ist ebenso Teil des Proletariats oder des Gesamtarbeiters wie das körperlich arbeitende Proletariat. Die Anknüpfungsmöglichkeiten liegen also hier in der Kritik des autonomen Subjekts, dem fabrikartig produzierenden Intellektuellenkollektiv und die Überwindung der Hierarchie zwischen Körper und Geist. Es ist genau dieser Text Krahls, an den Antonio Negri, der selbst tief vom „Anti-Ödipus“ beeinflusst ist, anknüpft.

Krahl greift für diese Gedanken wie Negri und Deleuze/Guattari auf Marx zurück, den er hier unter anderem wie folgt zitiert:

„Da mit der Entwicklung […] nicht der einzelne Arbeiter, sondern mehr und mehr ein sozial kombiniertes Arbeitsvermögen der wirkliche Funktionär des Gesamtarbeitsprozesses wird, und die verschiedenen Arbeitsvermögen, die konkurrieren, und die gesamte produktive Maschine [meine Hervorh.] bilden, in sehr verschiedener Weise an dem unmittelbaren Prozess der Waren – oder besser hier Produktionsbildung teilnehmen, der eine mehr mit der Hand, der andere mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als Manager, engineer, Technologe etc., der andere als overlooker, der dritte als direkter Handarbeiter oder gar bloß Handlanger, so werden mehr und mehr Funktionen von Arbeitsvermögen unter den unmittelbaren Begriff der produktiven Arbeit […] einrangiert.“ (Krahl, Konstitution und Klassenkampf, S. 340)

2. Marcuse vollzieht in eben den Essays vom Ende der 60er Jahre (z. B. „Versuch über die Befreiung“), in denen er das globale 1968 theoretisch verarbeitet und von denen Krahl die Analyse der „neuen Emanzipationsprinzipien“ her bezieht, eine Wende hin zu einem poststrukturalistischen Denken (während er zuvor eher linksexistentialistisch geprägt war). Nun weist Marcuse auch subtilen sprachlichen Nuancen einen revolutionären Charakter zu, stellt die entscheidende Bedeutung der Minderheiten – Frauen, Schwarze, Kolonisierte, Subkulturen, Jugend – für die Revolution heraus (jenseits der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt) und arbeitet die konstitutive Unvorhersehbarkeit, Ereignishaftigkeit eines revolutionären Aufstands heraus, in dem die bisher undurchdringlich scheinende Ordnung mit einem Mal infrage gestellt wird. Gerade diese Texte – ebenso wie damit verbundene Vorträge Marcuses in Frankfurt und Berlin – sind es, die Krahl für seine Reflexion der „solidarischen Verkehrsformen zwischen den Menschen“ rezipiert. Krahl nimmt ihre Kritik am Produktivismus des bisherigen Marxismus auf, erwähnt ihre Theorie einer „neuen Sensibilität“, und nennt Marcuse darum den „Kritischen Theoretiker der Emanzipation“.

„Die Geschichte hat auf die Tagesordnung gesetzt, was Marcuse ebenso philosophisch wie naiv formulierte: die Verkürzung des revolutionären Befreiungsprozesses auf industrielle Revolution schleppt das Elend der Verdinglichung mit sich fort und unterwirft die Individuen der persönlichen Knechtschaft der materiellen Produktionsmittel. Emanzipation hingegen will, dass die Individuen die industriellen Produktionsmittel organisieren, um miteinander glücklich verkehren zu können [meine Hervorhebung]. Der verkürzte Emanzipationsbegriff zielt nur auf ein verändertes Eigentumsverhältnis der Menschen zu den dinglichen Produktionsmitteln, nicht aber auf ein verändertes Verkehrsverhältnis der geschichtlichen Individuen untereinander.“ (Krahl, Konstitution und Klassenkampf, S. 306)

Mit diesen beiden Themen – ein weiteres könnte Krahls materialistischer Begriff des Bedürfnisses sein bzw. Deleuze/Guattaris Begriff des Begehrens sein – beschäftigt sich Krahl, um gegen die sich abzeichnende autoritative Wende der antiautoritären Bewegung eine genuin antiautoritäre Theorie zu entwickeln und damit die neuen Emanzipationsprinzipien von 1968 zu verwirklichen. Krahl ist, wie gesagt, bereits 1971 gestorben und konnte diese Gedanken nicht weiterverfolgen. Vielleicht können wir ihre mögliche Bahn erkunden, wenn wir den „Anti-Ödipus“ lesen. So könnte es uns gelingen, der heutigen autoritativen Wende, dem Neoleninismus unserer Tage, die Begriffe einer revolutionären, queeren, kollektiven Kultur glücklicher Beziehungen entgegenzusetzen.

Postscriptum 2. Juli 2022

Ich bin gerade auf Heinz Steinert über „Geschichte und Eigensinn“ gestoßen. Steinert stellt letzteres als eigentliche Fortführung der Kritischen Theorie da, und eben nicht Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“. Trotzdem blieben Oskar Negt und Alexander Kluge damit isoliert.

Ich finde das spannend, weil es der Nicht-Rezeption von Krahl korrespondiert – wobei Kluge ja Krahl hochschätzt (er hat ja vier kleine Geschichten über Krahl zur Einleitung zu unserem Sammelband hinzugefügt), und Negt „Konstitution und Klassenkampf“ mitherausgegeben hat. Außerdem haben Negt/Kluge in „Geschichte und Eigensinn“ Deleuze und Guattari verarbeitet, so dass man darüber eine Verbindung der praktisch-revolutionären Rezeptionsrichtung der Kritischen Theorie (also Krahl, Davis, Negt) zu Deleuze und Guattari herstellen kann.

Heinz Steinert (in „Das Verhängnis der Gesellschaft. Dialektik der Aufklärung als Forschungsprogramm“):

„Nach Adornos Tod 1969 wurde die Kritische Theorie in Deutschland in erstaunlich kurzer Zeit aus der Öffentlichkeit gedrängt. … Eine Gruppe von von Schülern versammelte sich um Oskar Negt in Hannover. Besonders sein mit Alexander Kluge geschriebene Buch Geschichte und Eigensinn (1981) ließ den Glanz der Frankfurter Schule noch einmal aufblitzen und blieb wohl genau dadurch isoliert.“

„Geschichte und Eigensinn ist das Gegenprogramm zu Habermas, insofern hier strikt ‚Arbeit‘ im Mittelpunkt der Theorie bleibt und auf z.B. ‚Krieg als Arbeit‘, besonders aber ‚Hausarbeit‘ und ‚Beziehungsarbeit‘ ausgedehnt wird – was damals wohl von der Frauenbewegung und der feministischen Theorie übernommen war und dieser sehr zupass kam. Das weitere Rezeptions-Schicksal dieses Buchs, das sich gegen die umgekehrte Denkbewegung: Kommunikation rückt in den Vordergrund, Arbeit wird in der Theorie irrelevant – nicht durchsetzen konnte, wäre eine eigene Studie wert.“