Reichtumsproduktion, psychische Energie und Kulturkritik

Ideologie- und Kulturkritik kann nicht darin bestehen, lediglich entfremdete Formen zu kritisieren, wie dies bei den heute üblichen Theorien der Fall ist (etwa Althussers Ideologietheorie oder Lukács‘ Verdinglichungskritik). Man muss vielmehr aufzeigen, dass in diesen entfremdeten Formen eine materielle Substanz in einer entfremdeten, abstrakten Form zirkuliert und uns beherrscht: Wie man dies nun auch nennt, psychische Produktion, psychische Energie, kultureller Reichtum, innere seelische Kraft.

Erst das kann eine wirklich materialistische Kulturkritik begründen, im Gegensatz zu einer letztlich idealistischen wie eben von Althusser oder Lukács.

So wie die menschliche Arbeit (nach Smith, Ricardo, Marx) die materielle Substanz des Werts ist oder dieser die abstrakt menschliche Arbeit, und die kapitalistische Ökonomie nicht nur als Verkettung von entfremdeten ökonomischen Formen begriffen werden kann; – so muss es auch eine materielle Substanz der entfremdeten Kultur geben, eine Form von Arbeit und Reichtumsproduktion.[1] Diese materielle Substanz wird ständig produziert, sie wird unter repressiven Umständen in abstrakter Weise geäußert, sie wird uns entfremdet und beherrscht uns, und dieser gesellschaftliche Reichtum wird partikular angeeignet – zum Nutzen dieser Ausbeuter und um uns desto intensiver zu beherrschen. Diese „herrschende Klasse“ sind eben die weißen, heterosexuellen, gebildeten, gesunden Männer. Es ist also eine Produktion, die zugleich Antiproduktion ist.

Erst mit so einer materialistischen Theorie des Reichtums kann man verstehen, wie Krisen in der Kultur überhaupt existieren können – also kleine Krisen (z. B. Gewalt in der Familie, Ausgebranntsein, Sinnlosigkeitserfahrung, persönliches Scheitern) oder große Krisen (z. B. Legitimationskrisen des Kapitalismus, Grenzen kultureller Produktion). Solche Krisen sind nicht schlicht die „Manifestation eines Widerspruchs“, sondern entstehen durch die entfremdete Reichtumszirkulation. Oder anders und mit Marx gesagt, der Widerspruch bezeichnet nur die reine Möglichkeit der Krise, das erklärt aber nicht, wie sie wirklich zustandekommt.

Klassischerweise würde man sich für eine Theorie dieser „psychischen Energie“ auf Freud und seine libido-Theorie beziehen. Aber weil das libido-Konzept (als abstrakte Sexualenergie) offensichtlich zu kritisieren ist, liegt es zunächst nahe, es ganz außer Acht zu lassen. Andererseits kann man die libido gerade als die abstrakte Form der materiellen Substanz deuten, so dass Freud ihre fetischistische Erscheinung richtig beschrieben hat, ihren Fetischcharakter bzw. ihre Naturalisierung jedoch nicht durchschaut hat.

Beispiele:

Eine Musik- oder Theateraufführung: Das produziert irre viel Energie, man „lebt auf“, hat danach mehr Kraft als zuvor (selbst wenn es anstrengend war). Oder eigentlich produziert es kollektive Energie, des Kollektivs des Publikums in Gemeinschaft mit den Aufführenden. Der „Energietransport“ kommt aber nicht zustande durch einen physischen Fluss von physikalischer Energie (Schall, Nahrung, etc.), sondern durch die Aufführung – durch den Inhalt, dessen Darbietung durch die Band/Schauspieler, wie das gemeinsame Erlebnis mit anderen.

Care-Arbeit: Care-Arbeit besteht ja nicht nur darin, objektive Güter oder Dienstleistungen mit „sichtbaren“ Effekten zu produzieren, sondern es erfordert auch ein seelisches Engagement, das für sich sehr anstrengend ist. Produktion von Zuwendung, Geborgenheit, Vertrauen, Wohlfühlen, usw.

Die innerlinken Grabenkämpfen setzen enorme Energien frei. Zum Beispiel die Beißreflexe-Debatte oder der Antisemitismus-Vorwurf. Die beiderseitigen Vorwürfe sind eine enorme Produktion von psychischer Energie, die zugleich eine neue Produktion einer Reaktion nach sich ziehen.

Rassistische Unterdrückung: Die Weißen ziehen aus dem rassistischen Verhältnis enorme Energien aus den Unterdrückten, es ist eine psychische Ausbeutung, nicht allein eine Ausbeutung in der Produktion von objektiv-materiellen Gütern. Dieser Entzug von Energie basiert darauf – wie Fanon das beschreibt –, dass die Rassifizierten sich selbst nicht kennen, sich selbst entfremdet sind, ihr Selbstbewusstsein immerzu den „Herren“ zutragen, „nicht atmen können“. Daraus ziehen umgekehrt die Weißen ein ungeheures Selbstbewusstsein, Kraft und Entschlossenheit, basierend auf der Ausbeutung von seelischer Energie.

Konjunkturen von Ideologien wie die Sicherheitsideologie anlässlich G20 oder der Katastrophenpatriotismus anlässlich der Corona-Pandemie: In diesen Ideologien findet eine enorme Zusammenziehung und Produktion von Energie statt. Es ist das große Wir, das gegen die Feinde der Demokratie (Linkschaoten, Querdenker) und gegen die von außen kommende Katastrophe (das Virus) zusammenhält. Das setzt gewaltige Energien frei, an Solidarität und Zusammenhalt nach innen (vor allem auch den unhinterfragten, aktiven support der Herrschenden) und an Verurteilung und Hetze gegen die Feinde.

Auch Hegel spricht in der „Phänomenologie des Geistes“ ständig von Arbeit des Geistes, Leben des Geistes, Begierde, Reichtum, bacchantischem Taumel. In aller Regel wird das objektiv-materiell verstanden: Arbeit wie im Marx’schen Kapital; Leben im biologischen Sinne; Begierde als objekt-materielles Bedürfnis; Reichtum scheint nur so eine „farbige narrative Floskel“ zu sein; der bacchantische Taumel ist eine dieser Hegel’schen Spinnereien.

Es ist eigentlich offensichtlich, dass diese „ökonomistisch-naturalistische“ Deutung der „Phänomenologie“ völlig am Text vorbeigeht. Beispielsweise ist die „Arbeit des Geistes“ ja ein wirklicher Aufwand, der Energie braucht, Widerstände überwinden muss, jedenfalls nicht sofort geht. Oder das „Selbstbewusstsein“ besteht nicht nur in einer formellen Selbstbeziehung, sondern erfordert eine substanzielle Energiezirkulation, die auf der Begierde des Selbstbewusstseins nach Anerkennung basiert: sei es als „Kampf auf Leben und Tod“, sei es als um Ausbeutung des Knechts durch den Herrn.

Marx hebt eigentlich gerade dies an der „Phänomenologie“ hervor: „Das Große an der Hegelschen Phänomenologie … ist … daß er also das Wesen der Arbeit faßt“; und Marx sagt dies in den Pariser Manuskripten in einem Kontext, in dem es um Emanzipation der Sinnlichkeit, um Leidenschaft, um Tätigsein (in einem allgemeinen Sinne) geht.[2]

An diese Ausführungen von Marx knüpfen Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus an, indem sie aus dieser Marx’schen Perspektive den Freud’schen libido-Begriff als kapitalistische Abstraktion kritisieren, die andererseits als solche herrschende Abstraktion die Wunschmaschinen real beherrscht.


[1] Man müsste hier überlegen, was das Äquivalent zum Wert in der entfremdeten Kultur ist: die abstrakte Sinnlichkeit? Der „Selbst-Wert“? Was?

[2] Man kann und sollte dies eventuell auch in den Kontext von Feuerbachs Theorie der Sinnlichkeit stellen, der ja auch die Leidenschaft, Kraft, das Herz usw. immer deutlich in den Vordergrund rückt. Und kann man nicht eine Beeinflussung der Psychoanalyse ausgehend von dieser materialistischen Theorie Feuerbachs nachweisen?