Arbeit an der Kulturtheorie. Kritik der „Phänomenologie des Geistes“

Ich arbeite derzeit an einer Dissertation mit dem obenstehenden Arbeitstitel, in der ich Hegels Phänomenologie des Geistes systematisch für die kritische Kulturtheorie fruchtbar und anschlussfähig zu machen versuche. Die Dissertation (betreut von Frieder Otto Wolf, Institut für Philosophie der FU Berlin) werde ich voraussichtlich Mitte 2024 einreichen.

Im folgenden eine kurze Übersicht über das Projekt. Hier auf academia kann man eine ausführliche Darstellung des Konzepts, der Thesen und der Argumentation lesen.

Abstract

Die Arbeit geht von der Beobachtung aus, dass kulturkritische Analysen recht häufig auf Hegels Phänomenologie des Geistes zurückgreifen: von Fanon über Marcuse bis zu Butler. Ein solcher kritischer Zugang zur Phänomenologie, der diese für die Kritik kultureller Probleme verwendet, ist offenbar sehr produktiv und wird in dieser Dissertation systematisch ausgearbeitet, gestützt insbesondere auf Fredric Jamesons The Hegel Variations (2010). Wegen Hegels affirmativer idealistischer Dialektik muss dieser Zugang anhand einer Kritik der Phänomenologie erarbeitet werden. Der Methode materialistisch-dialektischer Philosophiekritik (ausgearbeitet etwa von Marx, Adorno, Deleuze/Guattari) folgend und insbesondere orientiert an Marx‘ Kritik des Hegelschen Staatsrechts und wird die Phänomenologie als treffende Darstellung des „Falschen“ – bei Marx der Staat, hier die moderne Kultur – verstanden. Eine solche Kritik der Phänomenologie ist daher durch die Kritik ihrer Darstellung zugleich eine Kritik des von ihr Dargestellten: der modernen Kultur. „Kultur“ meint dabei im Sinne Walter Benjamins und Raymond Williams‘ als historisch bestimmte, umfassende und alltägliche Lebensweise. Die Phänomenologie ist eine Theorie der modernen Kultur, in dem sie das System der Erscheinungsformen des Geistes darstellt, der hier mt Adorno als Gesellschaft interpretiert wird. Während das Hegelsche System als solche die Institutionen der modernen Gesellschaft als s solche darstellt – im Zentrum Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – stellt die Phänomenologie deren Erscheinungsformen im Alltag dar: Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Nation.

Gliederung

0. Einleitung: Die Problemlage der kritischen Kulturtheorie
1. Materialistische Dialektik. Kritik der Einleitung der Phänomenologie
2. Interpretation der Phänomenologie als Kulturtheorie
3. Aspekte der Kulturtheorie. Kritik der Phänomenologie
4. Geschichte und System. Kritik des absoluten Wissens

Aperçu

Zahlreiche kritische Autorinnen greifen auf Hegels Phänomenologie des Geistes zurück, um ihre eigenen kulturtheoretischen Analysen zu erarbeiten:

  • Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken: Herr-Knecht-Kapitel für die subjektive Seite des Kolonialrassismus;
  • Simone de Beauvoir, Das zweite Geschlecht: Antigone-Kapitel im Kapitel „Die verheiratete Frau“;
  • Judith Butler, Antigones Verlangen: Antigone-Kapitel für die Analyse der Blutsverwandtschaft;
  • Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung: Aufklärungs-Kapitel;
  • Guy Debord, Gesellschaft des Spektakels: Kapitel „Kunstreligion“ für die Analyse der Unterhaltungskultur;

Diese Liste wäre fortzusetzen, etwa mit Marx, Lonzi, Du Bois, Marcuse, Sartre, Lacan. Trotz ihres idealistischen, affirmativen Charakters, den die genannten Autorinnen durchgehend kritisieren, genießt die Phänomenologie über diese Rückgriffe eine erhebliche Bedeutung für diese kulturtheoretischen Analysen. Das heißt aber auch: Trotz ihrer Veröffentlichung vor über 200 Jahren wohnt ihr weiterhin eine erhebliche Aussagekraft für die Kritik kultureller Phänomene inne.

Die gegenwärtige Problemlage der Kulturkritik

Das Jahr 1968 markiert einen immensen Aufbruch kultureller Emanzipation. Der bis dahin vorherrschende Ökonomismus und sein Hauptwiderspruchsdenken wurden grundlegend kritisiert, und die Kulturkritik stieg zum zentralen Thema der kritischen Theorie auf. Doch ist die Kulturkritik seither in eine zunehmende Problemlage geraten. Mag sie um 1968 oft auch kritikabel und einseitig gewesen sein, so teilten damals doch viele das Verständnis eines Zusammenhangs der unterschiedlichen Richtungen, und das Wissen, nur in der kontroversen Diskussion aller Richtungen eine aufs Ganze der Kultur gehende, revolutionäre Kritik leisten zu können. Seither haben sich die verschiedenen Ansätze – von der Verdinglichungskritik über die Kritische Theorie und den Strukturalismus bis hin zum Poststrukturalismus – in sich wechselseitig nur mehr polemisch gesinnte Lager verselbständigt. Die aufs Ganze gehende Kritik wurde sukzessive zugunsten eines Partikularismus aufgegeben, teilweise wurden die partikularen Probleme sogar zu gewissermaßen neuen Hauptwidersprüchen verabsolutiert. Und auch wenn um 1968 die Kulturkritik stets in Verbindung mit der Ökonomiekritik gedacht wurde, so wurde letztere zunehmend zugunsten einer Kulturalisierung der Theorie ausgeblendet. Heute hat die Kulturkritik größte Schwierigkeiten, die derzeitige Krise der Kultur zu denken, und vermag darum auch kaum oder nur sehr einseitig, sich über den Zusammenhang der erstarkenden radikalen Rechten mit der Krise der Kultur Rechenschaft zu geben. Mittlerweile hat sich in Reaktion auf diese Problemlage der Kulturkritik eine Neo-Orthodoxie herausgebildet, der zu dem überwunden geglaubten Ökonomismus und seinem Hauptwiderspruchsdenken zurückkehrt.

Der Einsatz meiner Arbeit besteht darin, dass diese Problemlage der Kulturkritik auf Grundlage der dialektischen Kulturtheorie der Phänomenologie überwunden werden kann – sofern diese kritisch zu einer materialistisch-dialektischen Kulturkritik gewendet wird. Diese Diskussion ist umso dringlicher, als es sich nicht um eine Problemlage bloß der Theorie handelt, sondern diese erhebliche negative Konsequenzen für die Praxis hat.

Die Problemlage lässt sich näher wie folgt umreißen:

  1. Seit 1968 unterliegt die Theorie einer Kulturalisierungstendenz, die die Ökonomie immer mehr dethematisiert hat. Darauf reagiert derzeit ein neuer und – ebenso wie der alte – problematischer Ökonomismus der Theorie, etwa in Rassismustheorie oder Feminismus.
  2. Es bestehen heftige Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen Richtungen der Kulturkritik und den ihnen entsprechenden politischen Strömungen (zum Beispiel zwischen Postkolonialismus und Antisemitismusforschung), obwohl eine adäquate Analyse der Gegenwart doch nur in der Zusammenführung der jeweiligen Forschungen möglich sein müsste; ebendies erweist sich jedoch als unmöglich.
  3. Partikulare kulturelle Herrschaftsverhältnisse wie Sexismus, Klassismus oder Antisemitismus, oder bestimmte kulturelle Formen – abstraktere wie das autonome Subjekt oder konkretere wie die patriarchale Kleinfamilie oder das „Spektakel“ – werden als die Wurzel aller Probleme verabsolutiert. Sie werden dabei isoliert oder höchstens intersektional analysiert, aber nicht in ihrem Zusammenhang mit dem System der Kultur insgesamt.
  4. Die gegenwärtige kulturelle Krise wird meist nur von Partialkrisen wie der Männlichkeitskrise, der Polarisierung („Kosmopoliten“ vs. „Kulturkonservative“) oder der Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts her gedacht. Es fehlt das Verständnis einer systemimmanenten Krise der Kultur als ganzer, was wesentlich zu den erheblichen Problemen in der Erklärung der radikalen Rechten beiträgt, deren Konjunktur vor allem mit der Krise der Kultur verbunden ist.

Kritik der Phänomenologie des Geistes als Darstellung der Kultur

Hegels Phänomenologie bietet (wie ich in meiner Arbeit darlege) eine systematische Darstellung der Kultur, die im Großen und Ganzen bis heute Gültigkeit beanspruchen kann. Diese Darstellung führt von elementaren kulturellen Formen wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein über komplexere wie Familie, Öffentlichkeit und Moral bis hin zu Formen der kollektiven Selbstverständigung, das heißt zu Ideologien wie der Vergnügungskultur und dem Antisemitismus. Für diese kulturtheoretische Lektüre der Phänomenologie stütze ich mich insbesondere auf das Buch The Hegel Variations (2010) des US-amerikanischen Kulturtheoretikers Fredric Jameson.

Allerdings ist die Phänomenologie keine Kulturkritik, sondern eine affirmative Kulturphilosophie. Um die Phänomenologie für kulturkritische Anliegen anschlussfähig zu machen, muss ihre affirmative Darstellung kritisiert und in eine Kritik der Kultur überführt werden. Dafür muss die Phänomenologie gewissermaßen „vom Kopf auf die Füße“ gestellt werden. Für diese Kritik orientiere ich mich an materialistisch-dialektischer Philosophiekritik etwa von Marx, Horkheimer oder Krahl, wie ich es bereits bei der Heidegger-Kritik in meinem Buch Die Faschisierung des Subjekts getan habe. Beispielsweise ist Marx‘ Kritik der Hegel‘schen Staatsphilosophie zugleich eine kritische Darstellung des Staats; entsprechend wäre die von mir unternommene Kritik der Phänomenologie eine kritische Darstellung des von der Phänomenologie dargestellten Gegenstands, der Kultur.

Die Kritik der Phänomenologie kann zur Überwindung der Problemlage der Kulturkritik beitragen, weil Hegel die Phänomenologie in der besonderen Methode der dialektischen Darstellung verfasst hat, die sich daher kritisch als materialistisch-dialektische Kulturkritik reformulieren lässt. Zu den besonderen Merkmalen der Phänomenologie gehört es, dass die Phänomenologie nicht, wie die heute verbreiteten Richtungen der Kulturkritik, einzelne Seiten der Kultur (zum Beispiel autonomes Subjekt versus Begierde, Privatsphäre versus Öffentlichkeit) heraushebt und idealisiert. Vielmehr stellt sie diese verschiedenen Seiten als wechselseitig voneinander abhängige Teile des Systems der Kultur dar. Die materialistisch-dialektische Kulturkritik ist damit ein viabler Ansatz – gesetzt den Fall, dass sie überzeugt –, auf dessen Grundlage die Grabenkämpfe und isolierten Betrachtungen überwunden werden können (wie in der Dissertation genauer auszuführen).

Darüber hinaus verfolgt die Phänomenologie entlang des Gangs ihrer konkreten Darstellungen eine systematische Diskussion der Grundlagen der Kulturtheorie, die damit ebenfalls zur Überwindung der Problemlage beitragen. Ich zeige dies an den folgenden fünf Aspekten auf:

  1. Kulturelle Herrschaftsverhältnisse (Hegel: Herr und Knecht): Mit Hegel lassen sich Herrschaftsverhältnisse wie Sexismus, Klassismus, Rassismus, Kultur-Elitismus, Antisemitismus (von Hegel affirmativ dargestellt) systematisch in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen der Kultur denken.
  2. Sinnlichkeit und Sprache (Hegel: Bewusstsein und Selbstbewusstsein): Durch die Kritik von Hegels Darstellung lässt sich die Kultur als Dialektik von entfremdeter Sinnlichkeit (Erlebnis) und entfremdeter Sprache (Kommunikation) verstehen und kritisieren.
  3. Die Ästhetik kultureller Formen (Hegel: Gestalt): Hegels Gestaltbegriff bezeichnet das eigentümliche Phänomen, dass die kulturellen Formen (wie die Familie, die Massenkultur) einen vorausgesetzten Horizont des Fühlens und Sich-Verstehens, eine spezifische Gestimmtheit darstellen, der dem Individuum unverfügbar ist und es zugleich präformiert. Die kulturellen Formen sind in sich geschlossene Ganzheiten, „Gestalten“, die ich kritisch als „Ästhetiken“ bezeichne und die sich ähnlich auch als „Aura“ beschreiben ließen.
  4. Die Herrschaft der Abstraktion in der Kultur (Hegel: Logik): Eng mit den Ästhetiken sind die herrschenden Abstraktionen verbunden. Hierbei handelt es sich um subjektiv-objektive Formen, die verselbständigt von den Individuen deren Bewegung beherrschen und zugleich nur die Bewegung der Individuen darstellen. Im Kontext des Marx’schen Kapitals wäre hiermit der Wert, also die abstrakte Arbeit, vergleichbar.
  5. Die Krise der Kultur (Hegel: der Tod): Hegel mystifiziert mit dem „Tod“ die immanente Zusammenbruchstendenz der Kultur, ihr systematisches Nicht-Funktionieren. Mit der durchgehenden Thematisierung des Todes ist daher in der Phänomenologie implizit eine komplexe und differenzierte Theorie der kulturellen Krise formuliert.

Die doppelte Zielsetzung meiner Arbeit

Um zusammenzufassen: Meine Arbeit hat also eine doppelte Zielsetzung, eine gegenständlich-inhaltliche und eine methodisch-formale: Zum einen geht es darum, die Phänomenologie so aufzubereiten, dass ihre Darstellungen in gegenwärtigen kulturkritischen Analysen möglichst gut handhabbar werden. Zweitens soll ein Zugang zur Phänomenologie ausgearbeitet werden, der ihre kulturtheoretische Methode als solche diskutiert und sie kritisch als materialistisch-dialektische Kulturkritik reformuliert. Dies nimmt in Anspruch, dass die Phänomenologie sowohl hervorragend produktiv für gegenständliche kulturkritische Analysen ist als auch entscheidend zur Überwindung der gegenwärtigen Problemlage der Kulturkritik beitragen kann.

Ausblick: Konstitution einer neuen materialistisch-dialektischen Kulturkritik

Auf Grundlage meiner Arbeit zeichnen sich die Konturen einer Richtung der Kulturkritik ab, die bisher nicht explizit beschrieben wurde, jetzt aber als eine eigenständige Richtung und Linie mit einschlägigen Autorinnen erkennbar und von anderen Linien unterscheidbar wird. Zu dieser Autorinnen der materialistisch-dialektischen Kulturkritik lassen sich etwa Walter Benjamin, Bertolt Brecht, das Dialektik-Programm des Instituts für Sozialforschung der 1930er Jahre, Alexander Kluge/Oskar Negt, Angela Davis oder Mariarosa Dalla Costa rechnen. Als zukünftiges Projekt ergibt sich damit, einerseits diese historische Linie anhand der jeweiligen Texte zu beschreiben, und andererseits unter Rückgriff auf diese früheren Arbeiten eine Kulturkritik der Gegenwart zu entwickeln. Meine Kritik der Phänomenologie wäre insofern ein Stück auf dem Weg zu einer systematischen Darstellung der gegenwärtigen Kultur in materialistisch-dialektischen Methode, einer Kritik der politischen Ökonomie für die Kultur.