Kritik der Erklärung des Rechtsrucks durch fehlende Klassenpolitik

Seit der Übersetzung von Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims (2016) ist in der deutschen Debatte über die radikale Rechten eine extrem problematische Erklärung des Aufstiegs der radikalen Rechten verbreitet, die dessen Ursache in der fehlenden Klassenpolitik der Linken sehen, welche sich nur mehr um Identitätspolitik kümmere. Das wird vor allem von politischen Akteur:innen vertreten, unter anderem vom Wagenknecht-Flügel der Linkspartei, sowie von trotzkistischen, marxistisch-leninistischen und neoleninistischen Gruppen – also insgesamt von „orthodox“ geprägten Strömungen der Linken.[1]

Der Aufstieg der radikalen Rechten wird hier so erklärt, dass die Arbeiterklasse von der Linken nicht mehr repräsentiert werde, weil sich diese nur mehr identitätspolitische Themen wie geschlechtergerechte Sprache kümmere, die Klassenfrage und soziale Gerechtigkeit aber aus dem Blick verloren habe. Aufgrund einer berechtigten Empörung und Wut über diese Linke, die den Kontakt zu den „normalen“ Menschen verloren habe und sich von den alltäglichen Problemen der einfachen Menschen abgewandt habe, würden sich diese der radikalen Rechten zuwenden, weil diese sich eben wirklich für die soziale Frage einsetzten und die identitätspolitischen Themen kritisierten – und zwar zurecht, weil hier Randgruppen ihre partikularen Probleme zu allgemeinen verkehren würden und damit in einem Bündnis mit dem Neoliberalismus stehen würden. Als antifaschistische Strategie wird daher eine Rückkehr zur Klassenpolitik gefordert: Die Linke müsse den Kontakt zu den Menschen wiedergewinnen und sie müsse sich endlich wieder dem verlorenen Markenkern der Linken, der sozialen Gerechtigkeit, widmen.

Diese Erklärung ist deutlich zu kritisieren:

Schon die Voraussetzung ist falsch, nämlich dass die Linke das Thema der sozialen Gerechtigkeit vergessen hätte. Tatsächlich stand das stets mit an erster Stelle, wie nicht zuletzt die Proteste gegen Hartz IV, die Krisenproteste nach 2009 oder das Parteiprogramm der LINKEN zeigen. Es stimmt zwar, dass diese linken Programmpunkte in der Öffentlichkeit keine oder kaum Repräsentation gefunden haben und oft sozialchauvinistisch diffamiert wurden. Aber das liegt nicht daran, dass die Linke das nicht als Thema hätte, sondern an der neoliberalen Hegemonie, in der solche Themen eben nicht funktionieren. Von rechts funktioniert die soziale Frage gerade darum in der Öffentlichkeit, weil sie von ihr nationalistisch und rassistisch aufgeladen wird und daher eigentlich keine soziale Frage ist.

Umgekehrt stimmt es nicht, dass die identitätspolitischen Themen nur für privilegierte Randgruppen, nicht aber für die „einfachen“ Menschen relevant seien, im Gegenteil: Die Hälfte der „einfachen“ Menschen sind weiblich, über ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands hat einen Migrationshintergrund, viele von ihnen sind LGBTI. Für alle diese Menschen gehören die identitätspolitischen Themen zu ihren „alltäglichen Problemen“.

Richtig ist, dass ein kleiner Teil der Linken eine solche aggressive, antisoziale Identitätspolitik praktiziert, wie sie diese Klassenpolitik-Debatte hier auf dem Kieker hat. Diese Form der Identitätspolitik wurde jedoch stets auch scharf kritisiert. Es ist selbst bereits eine krasse Projektion zu sagen, dass die Linke nur mehr diese Form aggressiver Identitätspolitik macht.

Schließlich sind es gerade nicht die sogenannten „einfachen“ Menschen, die nach rechts kippen, zumindest wenn darunter die verstanden werden, die „ganz unten“ sind und in diesem Sinn absolut existenzielle Probleme haben. Vielmehr sind es die Angehörige der Mittelschicht – der Angestellten, Kleinbürger:innen, der verbürgerlichten Arbeiter:innenklasse –, die ihre vormalige privilegierte zentrale Stellung der „gesunden Mittelschicht“ und ihre langfristige materielle Sicherung verloren haben oder zu verlieren drohen.

Zur richtigen Erklärung des Aufstiegs der radikalen Rechten:

Diejenigen, die sich aus einer irrationalen Wut auf eine angeblich „identitätspolitische“ Linke, die mittlerweile selbst großenteils zum „Establishment“ gehöre, der radikalen Rechten zuwenden, haben vielmehr diese Aggression und diese projektive Wahrnehmung aufgrund ihrer eigenen Situation entwickelt, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Linken steht. Die Mittelschichtsangehörigen, die ihren respektablen Status verloren haben oder zu verlieren drohen, gehen zur radikalen Rechten über, nicht weil sie sich von dieser primär soziale Gerechtigkeit versprechen, sondern weil sie aufgrund ihres Maskulinismus,Rassismus, Nationalismus diejenigen Positionen repräsentiert, die für diese Menschen mittlerweile selbst interessant geworden sind. Darin stellt andererseits die soziale Privilegierung der weißen, männlichen, deutschen Mittelschicht tatsächlich eine attraktive Komponente dar, die die Linke natürlich nicht vertritt. Sie entwickeln eine Wut gegen die Identitätspolitik, weil sie bereits Maskulinisten, Rassisten und Nationalisten geworden sind, und ihnen fehlt die Klassenpolitik bei der Linken, weil sie darunter bereits eine partikulare Politik für die weiße männliche deutsche Mittelschicht verstehen.

Es ist daher falsch, wie dies in der Debatte gefordert wird, diesem Rechtsruck auf der Ebene der Klassenpolitik zu begegnen. Man muss ihr auf der Ebene begegnen, auf der sie selbst agiert, nämlich der Kulturpolitik: Es geht um Identitätsnöte, die autoritär beantwortet werden. Die autoritäre Kulturpolitik greift darin dann auch die Klassenpolitik auf, allerdings als primär kulturelle, nicht als ökonomische Frage (Parolen „Zigeuner klauen uns die Rente“ etc.).


[1] Eribon stimmt diesen Schlussfolgerungen aus seinem Buch definitiv nicht zu, er würde sich niemals gegen Identitätspolitik stellen. Sein Punkt ist eher, dass das Pendel vielleicht zu sehr auf Seite der Identitätspolitik ausgeschlagen hat und die Klassenpolitik so gut wie nicht mehr thematisiert wird – was zwar auch fragwürdig erscheint, aber eine andere These ist. Die deutsche Rezeption des Buchs steht etwas quer zu dem Buch selbst.