Marcuse und der Poststrukturalismus von Deleuze/Guattari

Kritische Theorie und Poststrukturalismus gelten traditionell als extreme Gegensätze. Betrachtet man jedoch spezifisch die Theorien von Marcuse und von Deleuze/Guattari, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Schon die Einflüsse ähneln einander: Marcuse ebenso wie Deleuze/Guattari (anders als Kritische Theorie bzw. Poststrukturalismus sonst) rezipieren die marxistische Revolutionstheorie, den Surrealismus[2] und den Existenzialismus[3]. Mit dieser Nähe dürfte auch die herausragende Bedeutung Marcuses im französischen 1968 (anders als die der anderen Kritischen Theoretiker) zusammenhängen, sowie die nachfolgende Marcuse-Rezeption des Anti-Ödipus[1]).

Die Auffassung des extremen Gegensatzes rührt hauptsächlich von einer Reduktion der Kritischen Theorie auf den späten Adorno und einer Konstruktion eines „der“ Poststrukturalismus im Singular („French Theory“). Die Kritische Theorie wäre dann von Vernunft, Autonomie des Individuums, Totalitätskritik geprägt, der Poststrukturalismus dagegen von Irrationalismus, Subjektlosigkeit, Fragmentierung. Wenn man dagegen einzelne Autor:innen spezifisch miteinander vergleicht, ergibt sich schnell ein ganz anderes Bild.

Der Einsatz dieser Fragestellung ist, dass Kritische Theorie und Poststrukturalismus nicht so unendlich voneinander entfernt sind, wie immer getan wird. Wenn man die Theorien von Marcuse und von Deleuze/Guattari nun tatsächlich aufeinander bezieht, das heißt ihre Beziehung konkret ausarbeitet, so wird man in die Lage versetzt, die jeweiligen Begriffe aufeinander zu beziehen und in einer Analyse gleichzeitig mit beiden Theorien zu arbeiten. Man kann sich dann in einer gemeinsamen Debatte auf beide Theoriestränge beziehen und die gegenseitige Isolation dieser beiden Welten überwinden.

Ich werde hier skizzenhaft Marcuses Eindimensionalen Menschen und Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus miteinander vergleichen (mit gelegentlichen Seitenblicken auf Texte aus deren Umkreis). Bereits diese kursorische Analyse wird die eminente Übereinstimmung zwischen den beiden Theorien zeigen und deutlich machen, dass ein systematischerer Vergleich überaus spannend wäre und nicht zuletzt beide Theorien wechselseitig erhellen würde. Zwar gibt es auch offensichtliche Unterschiede, aber in folgenden Begriffen/Figuren ist die Übereinstimmung frappierend:

  • Technologie – Maschine
  • Umkehrung von Basis und Überbau
  • Dialektik der Befreiung – De-/Reterritorialisierung
  • Repressive Entsublimierung – Ödipus
  • Randgruppen – Klassenlose
  • Neue Sensibilität – Wunschrevolution

Marcuse in Frankreich

Vor dem Vergleich selbst einige Worte zur räumlichen Nähe Marcuses zu Deleuze/Guattari, die es bei den anderen Kritischen Theoretikern in den 1960er Jahren so nicht gibt. Im Mai 1968 ist Marcuse in Paris (zufällig, aus Anlass einer wissenschaftlichen Konferenz[4]) und erlebt die aufgeheizte Atmosphäre unmittelbar mit (wenige Wochen später berichtet er, zurück in den USA, von den Barrikadenkämpfen[5]). Die französische Übersetzung des eindimensionalen Menschen erschien (wiederum zufällig) 1968 und damit in direktem zeitlichem Bezug zum Mai 68. Auch wenn diese Begebnisse zufällig sind, haben sie Folgen, die hinsichtlich des Verhältnisses von Marcuse zum Mai 1968 nicht mehr zufällig sind, denn Marcuse steigt dadurch zu einer in der Studierendenbewegung vieldiskutierten Figur empor: „Und wenn Marcuse bis zum Mai 1968 in Frankreich so gut wie unbekannt war, so erscheinen in den Jahren 1968 bis 1972 durchschnittlich zwei Publikationen wöchentlich“[6].

Einige Jahre später, 1974, wird Marcuse dann eingeladen, in der 1968er-Universität Paris-Vincennes Vorlesungen über den eindimensionalen Menschen zu halten; er hält eine intensive Vorlesungsreihe von insgesamt sieben Sitzungen.[7] (Es wäre sehr interessant zu sehen, wie die Einladung motiviert war (Briefwechsel?), wie die Vorlesungen diskutiert wurden und welche Bedeutung Marcuses Präsenz auf dem Vincennes-Campus hatten, und spezifisch, ob Deleuze und Guattari den Vorlesungen beigewohnt haben – leider habe ich dazu bisher kein Material finden können, es wäre dafür eine eingehende Recherche nötig.)

Vergleich: Eindimensionaler Mensch und Anti-Ödipus

Nun also zum Vergleich des Eindimensionalen Menschen (1964) und des Anti-Ödipus (1972). Die beiden Bücher bieten sich als Vergleichspunkte an, weil sie grob derselben sozialen und politischen Konjunktur angehören und ihre Rezeption im engen Bezug mit 1968 steht. Die von Deleuze allein verfassten Texte sind für diesen Vergleich nicht so zielführend, da sie rein philosophisch sind, d. h. nicht gesellschaftsanalytisch und militant sind, und im Wesentlichen außerhalb des Marxismus anzusiedeln sind. Guattari dagegen hat vor seiner Zusammenarbeit mit Deleuze nur kleinere Texte geschrieben. Die späteren gemeinsamen Arbeiten der beiden (Tausend Plateaus von 1980) gehen dann schon wieder aus dem Kontext von 1968 heraus, so dass dann der Vergleich mit Marcuse weniger so sinnfällig ist. Umgekehrt dürfte es jedoch interessant sein, Marcuses Texte aus den Jahren nach 1968 miteinzubeziehen, da sie sich meines Ermessens dem Poststrukturalismus sehr stark annähern.

Technologie – Maschine: Marcuses Technologiebegriff und Deleuze/Guattaris Maschinenbegriff stellen beide eine Ausweitung der Technologie bzw. der Maschine auf die ganze Gesellschaft dar, dabei insbesondere auf die Bedürfnisstruktur. Bei Marcuse sind die Bedürfnisse technologisch präformiert (so dass die Menschen „funktionieren“), während bei Deleuze/Guattari der Zentralbegriff im Anti-Ödipus die Wunschmaschine ist und auch der Kapitalismus als eine gesellschaftliche Maschine beschrieben wird. Beide unterscheiden sich allerdings: Zwar übt Marcuse eine Kritik an der Technologie, die die ganze Gesellschaft und auch unsere Triebe und unsere Bedürfnisse (oder Wünsche) durchwirkt, während Deleuze/Guattari den Maschinenbegriff als „ontologische“ Struktur selbst begreifen. Abgesehen von dieser unterschiedlichen Wertung korrespondieren beide Theorien einander in der Beschreibung der Realität.

Umkehrung von Basis und Überbau: Gemessen am orthodoxen Basis-Überbau-Schema kehren sowohl Marcuse als auch Deleuze/Guattari das Verhältnis von Ökonomie und Bedürfnissen/Begehren um. Im orthodoxen Schema determiniert die ökonomische Basis die geistigen, kulturellen, politischen Überbauten, während die Revolution primär in der Umwälzung der Ökonomie – der Sozialisierung der Produktionsmittel besteht. Das ist bei Marcuse und bei Deleuze/Guattari in sehr ähnlicher Weise umgekehrt: Bei Marcuse manipuliert die Technologie die Subjekte bis in die Tiefenstruktur ihrer Bedürfnisse, sowohl Kaufbedürfnisse als auch Protestbedürfnisse, so dass die Ökonomie sich auf dieser neuen „Basis“ der technologisch formierten Bedürfnisse ganz ungehindert und ohne die früheren Klassenantagonismen, Konkurrenzerscheinungen und Krisen entfalten kann. Und auch die Revolution konzipiert Marcuse nun so, dass die subjektive Befreiung der Menschen der ökonomischen Revolution vorhergehen muss: Erst Menschen, die in ihrer Bedürfnisstruktur nicht mehr an die Unterdrückung gekettet sind, können Träger der Revolution werden. Diese These wird Marcuse im späteren Vortrag sehr stark machen. – Und bei Deleuze/Guattari: Die marxistische Theorie der Abfolge der ökonomischen Formationen modifizieren Deleuze/Guattari so, dass die historische spezifische Organisation des Wunsches (begriffen als überindividuelle, kollektive Begehrensstruktur) die jeweilige ökonomische Struktur bestimmt bzw. sich in ihr Ausdruck verschafft (Wilde – Barbaren – Zivilisierte). – Die Differenz von Marcuse und Deleuze/Guattari besteht dabei darin, dass für Marcuse diese Umkehrung von Basis und Überbau sich historisch erst in der eindimensionalen Gesellschaft nach 1945 durchgesetzt hat, während sie für Deleuze/Guattari wiederum eine „ontologische“ Struktur ist.

Dialektik der Befreiung – De-/Reterritorialisierung: Beide Theorien thematisieren die Integration von ursprünglichen Befreiungsimpulsen und -bewegungen in den Kapitalismus und analysieren auf diese Weise auch die ungeahnte Stabilität des Kapitalismus in ihrer eigenen Gegenwart. – So analysiert Marcuse die Dialektik der Befreiung, insbesondere indem frühere Freiheitsideen und Ideale des revolutionären und liberalen Bürgertums heute auf repressive Weise verwirklicht sind und indem die materiellen Überlebensbedürfnisse (der Kernschichten in den Metropolen) durch den Kapitalismus befriedigt werden, wobei beide „Errungenschaften“ aber zur Beherrschung der Menschen benutzt werden. Diesen Punkt entfaltet Marcuse später konzentriert in seiner keynote auf dem Kongress „Dialectics of Liberation“ (London 1967).[8] – Ganz ähnlich bei Deleuze/Guattari: Frühere Deterritorialisierungen – d. h. progressive Aufbrüche, Grenzdurchbrüche, Normauflösungen – wurden so eingefangen, dass der Kapitalismus die „Axiomatik“ seiner Funktionsweise um ein weiteres Axiom ergänzte und die deterritorialisierten Ströme so wieder reterritorialisiert, d. h. mithilfe der Deterritorialisierung eine erneute explizite Herrschaft mit abgestecktem Territorium (im übertragenem Sinne) errichtet.

Repressive Entsublimierung – Ödipus: Sowohl Marcuse als auch Deleuze/Guattari analysieren dieselbe herrschende Subjektform, die in der Unterwerfung und Entfremdung durch und in der lustvollen Erfüllung des Begehrens besteht. Marcuse Begriff dafür ist die „repressive Entsublimierung“, teilweise auch „repressive Befriedigung“, in der vormals sublimierte Bedürfnisse – das heißt unterdrückte und nur ideell, „sublim“ befriedigte Bedürfnisse – nun freigelassen werden und gesellschaftlich befriedigt werden, insbesondere durch eine Reduktion (Lokalisierung, Kontraktion) der erotischen Befriedigung (die tendenziell Arbeit, Leben, Umwelt umfassen kann) auf bloßen Sex. Wir sind dabei in unseren Bedürfnissen an die kapitalistischen Konsumprodukte gefesselt: „Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät.“[9] Darum empfinden sie „Euphorie im Unglück“[10]; sie haben kein Bewusstsein der Knechtschaft mehr, sondern ein ständiges „Glückliches Bewusstsein“. – Sehr ähnlich beschreiben Deleuze/Guattari das Subjekt des „Ödipus“ (ihre zentrale Analyse von Subjektivität im Kapitalismus) als innere Pervertierung des Begehrens, in dem es in ein fetischistisches, abstrakt individuelles Selbstverhältnis transformiert wird. Der Ödipus klebt so lustvoll an den kapitalistischen Herrschaftsstrukturen, hat dabei aber jeden Kontakt „zu sich selbst“ verloren. – Diese in der Sache identische Subjektdiagnose wird durch zwei fast identische Formulierungen sehr klar belegt. So Marcuse in einem späteren Vortrag: „Das Ergebnis ist ein verstümmeltes, verkrüppeltes und frustriertes Menschenwesen, das wie besessen seine eigene Knechtschaft verteidigt.“[11] Und Deleuze/Guattari: „Selbst die repressivsten und demütigsten Formen gesellschaftlicher Produktion werden vom Wunsch innerhalb der Organisation erzeugt […]. So bleibt die grundlegende Frage der politischen Philosophie immer noch jene, die Spinoza zu stellen wußte (und die Reich wiederentdeckt hat): Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?“ (Anti-Ödipus, S. 39)

Randgruppen – Klassenlose: Die „Theorie“, von welchen gesellschaftlichen Gruppen heute (damals) die revolutionären Impulse ausgehen, nachdem sich die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt desavouiert hat, ist bei Marcuse und Deleuze/Guattari wahrscheinlich auch nicht exakt identisch, scheint aber doch in wesentlichen Zügen übereinzustimmen. Bei Marcuse sind es die Randgruppen (Marcuse hat die „Randgruppentheorie“ auf den letzten Seiten des eindimensionalen Menschen skizziert, aber erst später richtig ausgearbeitet hat: Nicht mehr vom klassischen Industrieproletariat geht der Impuls der Revolution aus, sondern von den „Geächteten und Außenseiter“. Später beschreibt er neben dieser unterprivilegierten Randgruppe noch die privilegierte der Studierenden und Intellektuellen. Bei Deleuze/Guattari ist es ebenfalls nicht die Arbeiterklasse, sondern es sind die Klassenlosen „außerhalb der Klasse“: Der Gegensatz liegt „zwischen den Dienern der Maschine und jenen, die sie oder das Getriebe in die Luft sprengen.“[12] Dabei geht es immer auch um den Gegensatz zur herrschenden Gruppe der Weißen, Kolonisatoren, Männer, Heterosexuellen: Später werden Deleuze/Guattari das explizit als Theorie des Minoritären und Minoritär-Werdens formulieren, die aber der Sache nach auch im Anti-Ödipus schon präsent ist. – Gemeinsam ist Marcuse und Deleuze/Guattari übrigens auch, dass sie sich nicht schlicht gegen die Arbeiterklasse im Sinne eines organisierten Kampfes gegen den Kapitalismus stellen, aber sagen, dass bevor dies ein wirklich emanzipatorischer Kampf sein kann (der nicht selbst wieder den Kapitalismus stabilisiert oder sogar repressiv wird), eine andere Art von Revolution stattgefunden haben muss: Für Marcuse eine Revolution der Sinnlichkeit, für Deleuze/Guattari die Wunschrevolution.

Neue Sensibilität – Wunschrevolution: Auch die Art und Weise, in der Marcuse bzw. Deleuze/Guattari die subjektive Emanzipation – auf die es eigentlich ankommt – konzipieren, stimmt weitgehend überein und kann grob als das „68er-Modell“ der Emanzipation begriffen werden: Es ist die Phantasie und der Traum, die nicht länger bloß als irreale Epiphänomene der Realität, sondern als die Realität gestaltende bzw. die Realität konstituierende Phänomene begriffen werden. Hier kommt der gemeinsame Bezug von Deleuze/Guattari und Marcuse zum Surrealismus zur Geltung. Als Begriffe für die Emanzipation bringt Marcuse dabei die Realisierung des Lustprinzips, das Spiel, die „neue Sensibilität“ (im späteren Essay on Liberation von 1969); bei Deleuze/Guattari ist es das Ende der Repression der Begehrensströme und ihr freies Fließen der Begehrensströme. – Deleuze/Guattari sind hier allerdings in einem Element wesentlich radikaler als Marcuse (und insofern auch näher am Surrealismus), nämlich im Element des „Bösartigen“, der „Grausamkeit“, des „organlosen Körpers“, denen eine zentrale Rolle für die Emanzipation und tendenziell das eigentliche Ziel der Emanzipation (als eines rundum hedonistischen, rein triebhaften Selbsterlebens) dargestellt. Vergleichbare Vorstellungen bei Marcuse sind stets romantisch, handwerklich-künstlerische Selbstverwirklichung, teilweise vormoderne Figuren; bei Marcuse sollen sich sozusagen alle ganz liebhaben. – Für Marcuse wie für Deleuze/Guattari ist dabei, wie schon bemerkt, die eigentliche Revolution nicht die ökonomische, sondern die Befreiung der Bedürfnisse bzw. die Wunschrevolution. Hier betonen allerdings beide immer explizit, dass sie sich nicht gegen den ökonomischen Kampf stellen, nur dass dieser auf Grundlage einer Emanzipation des Begehrens (interessanterweise bleiben Marcuse und Deleuze/Guattari gleicherweise vage, wie diese konkret aussehen soll, wie der eigentliche Kampf, die Politik auf diesem Feld aussehen soll). Marcuse betont immer wieder, dass er in diesem Sinne Marxist ist, dass die Arbeiterinnenklasse das revolutionäre Subjekt ist, und nicht die Randgruppen, die in der eindimensionalen Gesellschaft allerdings der einzige Impuls für revolutionären Bestreibungen sind. Und gemäß Deleuze/Guattari ist der „Kampf im gesellschaftlichen Feld“ – also Interessensvertretungen der Arbeiterinnen, politische Parteien – auch wichtig, aber gegenüber der Befreiung der Begehrensströme nachrangig. Sie argumentieren hier so: Da die Befreiung der Begehrensströme bisher nicht gelungen ist, haben sich in den politischen und ökonomischen Revolutionen immer Momente der Mikrorepression durchgesetzt, zuletzt in der gescheiterten Revolution von 1968.

Warum ist 1968 gescheitert? Marcuses Vincennes-Vorlesungen

In seinen Vincennes-Vorlesungen stellt Marcuse dieselbe Frage, die dem Anti-Ödipus zugrundeliegt: Warum ist 1968 gescheitert? Marcuse: „Die gleiche Integration ist es, welche die einfache Vereinnahmung der sogenannten Gegenkultur erklären dürfte. Ich habe keine Zweifel, dass es in den 1060ern in diesen Gegenkulturen ein wahrhaft radikales Element gab, eine wahrhaft radikale Kraft, die nun allerdings fast verschwunden ist. Selbst in den Chefetagen finden sich Rauschgift und Drogen und Vizepräsidenten großer Konzerne tragen gewaltige Bärte und langes Haar.“[13] – Guattari führt in einer öffentlichen Diskussion über den Anti-Ödipus aus: „Es ging ursprünglich […] um eine gewisse Bestürzung angesichts der Wendung, die die Ereignisse nach dem Mai ‘68 nahmen. […] Unser Ausgangspunkt bestand in der Überlegung, daß sich während dieser entscheidenden Zeitabschnitte etwas von der Ordnung des Wunsches im Maßstab des Ganzen der Gesellschaft gezeigt hat, daß es dann unterdrückt wurde, liquidiert und zwar ebensowohl von den Kräften der Macht, wie von den sogenannten Arbeiterparteien und -gewerkschaften und, bis zu einem gewissen Grade, von den linksradikalen Organisationen selbst.“[14]

1969: Marcuse goes Poststrukturalismus

Bereits der Eindimensionale Mensch ist durch einen politischen Widerspruch gekennzeichnet, den Marcuse allerdings selbst in dieser Absurdität als „circulus vitiosus“ herausarbeitet und dessen Schärfe betont: Trotz des reibungslosen Funktionierens und der fast absoluten Geschlossenheit des Bestehens muss politisch gehandelt werden (die Befreiung ist notwendig, damit wir „als Menschen“ leben können), ohne dass man dafür auf irgendwelche Fundamente oder klare Bahnen bauen kann. Diesen politischen Widerspruch fasst Marcuse in seinen politischen Texten im Kontext von 1968 immer schärfer und spitzt ihn schließlich im Essay on Liberation (deutsch: Versuch über die Befreiung) in poststrukturalistischer Weise zu: Übliche Bahnen des Protests, die eine Antizipation und Berechnung des Erfolgs erlauben, verbleiben allein deshalb schon im Rahmen des Bestehenden; radikaler Protest im Sinne eines wirklichen Brechens mit dem Altbekannten vollzieht sich prinzipiell in Form des Spontanen, Abweichenden, Verrückten; die Revolution ist letztlich ein kollektives Ereignis, das sich irgendwie von selbst „vollzieht“, das „passiert“, ohne dass man sich darin als Subjekt einmischen darf. Es ist ein Einbruch des Ereignisses in das abgekartete, abgesperrte Universum der herrschenden Gegenwart.

Schluss: Zur Differenz von Marcuse und Deleuze/Guattari

Zu guter Letzt: Auch wenn sich die Theorien von Marcuse und Deleuze/Guattari in vielem sehr stark ähneln, sie sind nicht identisch. Ich habe darauf schon einige Male hingewiesen, aber die Differenz lässt sich zusammenfassend vielleicht so interpretieren, dass Deleuze/Guattari in allen Belangen, die Marcuse formuliert, radikaler und konsequenter sind; dass Marcuse bestimmte Beobachtungen tätigt und Begriffe formuliert, die Deleuze/Guattari dann in der Konsequenz verfolgen. Während Marcuse zwar die durchtechnologisierte Welt ohne Innerlichkeit eindrücklich beschreibt, ist seine Kritik letztlich doch von der Trauer über den Verlust der bürgerlichen Individualität bestimmt, in deren Resten zugleich noch die Reservoirs für Emanzipation gesucht werden müssen. Dagegen verabschieden sich Deleuze/Guattari von dieser bürgerlichen Individualität (die immer schon ein Problem war – wobei sie damit auch wieder übers Ziel hinaus schießen) und gehen konsequent zu einem ontologischen Maschinenbegriff über. Emanzipation geht bei ihnen nicht gegen die Wunschmaschine, sondern in ihrer Befreiung, in und mit dem „Stampfen“ und „Dröhnen“ ihres Begehrens: „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt.“[15]


[1] Deleuze/Guattari arbeiten an ein paar Stellen im Anti-Ödipus mit Triebstruktur und Gesellschaft und dem Eindimensionalen Menschen. Das ist zwar keine systematische, aber doch eine Rezeption, die spezifisch für einige Argumente auf Marcuse zurückgreift.

[2] In der deutschsprachigen Diskussion ist der Surrealismus wenig gelesen, und so wird auch der Einfluss des Surrealismus auf Marcuse und auf Deleuze/Guattari regelmäßig unterschätzt. Dadurch ergeben sich zum Teil erhebliche Verständnisschwierigkeiten der beiden Werke. Zur Bedeutung des Surrealismus für Marcuse siehe den Artikel „Große Weigerung“ im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus. Den Terminus der „Großen Weigerung“ bezieht Marcuse aus dem Surrealismus, wo er mit dem Phantasiebegriff verknüpft ist – die Weigerung lässt die Phantasietätigkeit einsetzen. „Sowohl in Triebstruktur und Gesellschaft (130) als auch im Versuch über die Befreiung (267) bezieht sich Marcuse an wichtigen Stellen auf den Surrealismus. […] Viele Motive der surrealistischen Bewegung erscheinen als Vorwegnahme wichtiger Teile von Marcuses Werk: die Rehabilitierung von Phantasie und Spiel gegen die Herrschaft der Logik, die Ablehnung einer konformistischen Psychoanalyse […].“ (HKWM, Eintrag „Große Weigerung“, S. 993f)

[3] Marcuse kam ursprünglich von Heidegger her, den er zwar ab 1933 deutlich kritisiert, dessen Authentizitätsdenken im Eindimensionalen Menschen aber immer noch präsent ist, zudem bezieht er sich dort regelmäßig auf Sartre. Guattari wiederum kam ursprünglich von Sartre her, und der Anti-Ödipus arbeitet selbst mit Sartre und erweist sich nicht zuletzt in seinem Authentizitätsdenken als sehr von Sartre geprägt (wobei der Anti-Ödipus Sartre gewissermaßen umdreht: Es geht nicht um einen individuellen Selbstkern, der gerade als Entfremdung begriffen wird, sondern um kollektive und prozesshafte Authentizität).

[4] Marcuse hält sich in Paris von 1. Bis 12. Mai 1968 auf, aus Anlass eines Vortrags am 6. Mai auf der von der UNESCO durchgeführten Konferenz „Die Rolle von Karl Marx in der Entwicklung des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens“ anlässlich des 150. Geburtstages von Marx. Sein Vortrag hieß: „Re-examination of the Concept of Revolution.” (Quelle: Kraushaar, Band 1 Chronik, S. 316f) Veröffentlichung des Vortrags: Herbert Marcuse, Re-examination of the Concept of Revolution, in: New Left Review Nr. 56, Juli – August 1969, S. 27–34.

[5] Am 23. Mai 1968, wieder in den USA, gibt er an der University of California in einem Hörsaal vor großem Publikum einen eindrücklichen Bericht von den Mai-Ereignissen in Paris.

[6] Z. Tauber, Befreiung und das Absurde, 1994, S. 10.

[7] Veröffentlicht in: Marcuse, Kapitalismus und Opposition. Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen, zu Klampen 1917. Zur Einschätzung siehe auch Douglas Kellners Nachwort zur englischen Ausgabe: Jansen/Reitz (Hg.) (2015): Herbert Marcuse’s 1974 Paris Lectures at Vincennes University. Zum Nachwort hatte ich bisher keinen Zugang.

[8] Vgl. die Veröffentlichung seines Vortrags: Marcuse: „Befreiung von der Überflussgesellschaft“, in: Kursbuch 16, 1969, S. 185-198.

[9] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Luchterhand 1968, S. 29.

[10] Ebd., S. 25.

[11] Vgl. Marcuse, „Befreiung von der Überflussgesellschaft“, a. a. O.

[12] Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, Suhrkamp 1981,  S. 328.

[13] Marcuse, Kapitalismus und Opposition. Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen, zu Klampen, 2017, S. 49.

[14] Guattari: „Deleuze und Guattari erklären sich“, in: Guattari: Mikro-Politik des Wunsches, Merve, 1977, S. 38.

[15] Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, Suhrkamp 1974, S. 7.