Bemerkungen zu Identität, Selbstwert, Selbstgefühl

Ich versuche hier die Richtung einer materialistischen Kritik von Identität, Selbst und Selbstwert zu entwickeln. Ich begreife diese Phänomene als gesellschaftlich bedingte, entfremdete Formen des Selbstbewusstseins. Identität, Selbst und Selbstwert prägen unser Leben und unseren Alltag ständig, in jeder Beziehung und in jedem Kontext. Es sind zutiefst widersprüchliche, hinterhältige und privategoistische Formen. Während die Phänomene affirmativ immer idealistisch als „wir selbst“, „Ehrenpunkt des Menschen“ und so hingestellt werden, versuche ich eine materialistische Perspektive einzuschlagen, die diese Phänomene auf Arbeit, individuelle Geschichte (Biographie), natürliche Voraussetzungen und Interaktionen bezieht.

1. Der Selbstwert: Quantifizierung des Selbst

Es gibt für das bürgerliche Selbst eine Quantifizierung, so wie es in der kapitalistischen Ökonomie eine Quantifizierung in der Wertgröße und im Geld gibt. Das heißt, es gibt im Bereich des Psychischen, der Anerkennungsbeziehungen und der zwischenmenschlichen Interaktionen eine Währung, die man akkumulieren kann, mit der man andere beeindrucken und zu etwas bringen kann, auf deren Grundlage man agieren – sozusagen mehr „produzieren“ – kann. Die Beobachtung, die zu dieser Feststellung führt, ist folgende: Es geht bei uns immer darum, glücklich zu sein; ein hohes Selbstgefühl zu besitzen; von anderen geschätzt und geliebt zu werden; eine „innere Stärke“ zu besitzen, um andere beeindrucken zu können; eine „innere Stärke“ auch, um nicht „bedürftig“ zu erscheinen, sondern gerade durch die Erscheinung der „Unabhängigkeit“ auf andere attraktiv zu wirken. Aber all dies ist sozusagen fies zirkulär: Wer keinen hohen Wert des Selbst besitzt, der erscheint für andere uninteressant und hat auch für sich selbst nicht das Selbstvertrauen und die Zuversicht, andere zu beeindrucken, um von ihnen geschätzt zu werden, oder auch sich in Projekte zu vertiefen, um von anderen geschätzt zu werden. Es geht also immer um ein Mehr oder Weniger des Selbst: Quantität des Glücks, innere Stärke, hohes Selbstgefühl, hohe Schätzung durch andere. Wir sprechen auch davon, „an etwas zu wachsen“. Aufgrund dieses Mehr oder Weniger an Selbst kann man dieses Phänomen „Selbstwert“ nennen, in Parallele zur kapitalistischen Ökonomie, und so wird es ja auch in der Psychologie genannt.

Dieser innere Wert, der Selbstwert, erscheint wie der Wert innerhalb von Verhältnissen an Menschen, die durch sich selbst dieses Mehr und Weniger an Wert zu sein scheinen. Er äußert sich in niedrigerem und höherem Prestige, in der Körperhaltung und Ausstrahlung, und lässt sich übrigens auch in Geldwert umsetzen: Man braucht Ausstrahlung und muss selbstbewusst auftreten können, um sich gut verkaufen zu können; mit diesem beruflichen Erfolg kann man dann wieder seine Vermögen erweitern, sich eine schöne Wohnung einrichten, schöne Parties feiern, sich sein Auftreten (Kleidung, Parfüm, Friseur) kaufen. Es gibt dann schließlich, als Ergebnis dieser Dialektik, eine eindeutige Hierarchisierung des Selbstwerts in zwei „Klassen“, sozusagen den Oberbürger und den Unterbürger – Herr und Knecht bei Hegel, Herr und Sklave bei Nietzsche, umgangssprachlich Oberschicht und Unterschicht. Diese eindeutige Hierarchie ist vom bürgerlichen Selbst und seinem Selbstwert nicht zu trennen.

Obwohl das Selbst und der Selbstwert immer das Resultat von sozialen Prozessen sind und ohne sie gar nicht zu denken sind, erscheint der Selbstwert immer als das Privateigentum eines Individuums und ist es auch wirklich. Ohne Anerkennung durch andere, Zusammenarbeit mit anderen, Nutzung der Produkte und Dienstleistungen von anderen kann das Selbst nicht wachsen und gestärkt werden.

2. Selbstwert nicht nur individuell

Der Selbstwert und die Hierarchie beschränken sich nicht auf den Bereich der individuellen Beziehungen, sondern sind auch in anderen Stufen vorhanden, zum Beispiel als hohe Moral mit entsprechendem spießigem Selbstgefühl und hohem Selbstwert, als Familie von gutem Ruf und hohem Prestige („aus gutem Hause“), als von Kino und Pop produzierte happiness und fun, als Selbstbewusstsein oder Minderwertigkeitsgefühl einer Nation, als „Herrenrasse“.

3. Die Arbeit im Selbstwert

Hinter dem Selbstwert steht immer Arbeit, Zeitaufwand, auch wenn er nicht als solcher erscheint. Unmittelbar erscheint der Selbstwert als Eigenschaft des Individuums als solchen. Ein fitter, attraktiver, schlanker Körper ist nur mit regelmäßiger aufwendiger Fitness zu erlangen; modische Kleidung muss gesucht, anprobiert, gekauft und der Mode entsprechend erneuert werden; die Fähigkeit zu geistreichen Bemerkungen bedarf Wissen und Eloquenz. All dies erscheint in der Situation natürlicherweise dem jeweiligen Individuum und seiner Natur, seinem Körper zuzukommen, was dann als solches als großartig und attraktiv erscheint.

Das ist also auch wie in der kapitalistischen Ökonomie: Der Wert einer Ware ist durch die Arbeit bestimmt, wenn er auch von der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft nur durch die Natur bzw. die subjektiven Wertschätzungen einer Ware durch andere Individuen zustandezukommen scheint.

4. Die widersprüchlichen Wechselbezüge des Selbstwerts

Der Witz ist, dass das Selbst in seiner Konstitution und der Selbstwert in seinen Mechanismen nur dann durch die verschlungenen Zwischenbezüge zwischen verschiedenen Individuen erklärt werden kann. Die Arbeit gilt nur insofern, als sie von anderen auch anerkannt wird – wird sie das nicht und trifft nicht auf die inhaltlich spezifischen Wertschätzungen durch andere, so war sie umsonst, man ist gescheitert und die Frustration ist hoch.

Darum kann aber das Selbst nicht als statischer Begriff entwickelt werden, sondern nur als Prozess zwischen verschiedenen Individuen, der in sich einige Brüche hat bzw. widersprüchlich ist. Das ist am besten an Beispielen zu entwickeln. Sehr klare Beispiele sind die geistige Arbeit und das Flirten.

Geistige Arbeit: Man kann etwas produziert haben, und indem man es fertiggestellt hat, darin sein Selbstbewusstsein stabilisiert und errungen sehen. Dieses errungene Selbstbewusstsein hängt jedoch davon ab, ob andere das Geschaffene auch anerkennen und schätzen. Man kann sich vertun, man kann eine schlechte Arbeit leisten, man kann an den aktuellen geistigen Strömungen vorbei denken. Immer ist mit der Arbeit die Unsicherheit verbunden, ob es am Schluss dann wirklich angenommen wird. Obwohl das Produkt als die eigene Leistung des Individuums erscheint, ist von den anderen abhängig, ob es wirklich als Leistung erscheint und ob das Selbstbewusstsein durch die Arbeit errungen ist. Zwei weitere Punkte: a) Man braucht andererseits auch zuvor schon Selbstbewusstsein, um eine solche geistige Arbeit anzugehen und mit der Zuversicht daran zu arbeiten, dass andere es wertschätzen werden. Es ist in gewissem Sinn zirkulär: Ohne vorheriges Selbstbewusstsein kann man kein Selbstbewusstsein erringen. Das vorherige Selbstbewusstsein und die vorherige Anerkennung kann dann auf verschiedenen quasi-natürlichen Voraussetzungen beruhen, zum Beispiel auf einem Titel, auf einer guten Familie, auf einem erfolgreichen Vater (Professor, Bürgermeister…), dessen Selbstvertrauen sich auf einen selbst überträgt, ob man in Berlin wohnt oder auf dem Dorf in Bayern, auf einem stabilen zwischenmenschlichen Umfeld (Beziehung, …), oder letzten Endes eventuell nur auf Geschlecht, Hautfarbe oder Migrationshintergrund. Das alles sind „natürliche“ Voraussetzungen im Vergleich zur Arbeit, es ist aber ohne Ausnahme nur quasi-natürlich und selbst wiederum sozial konstituiert; alles dieses ist von Anerkennungsbeziehungen abhängig und kann infragegestellt oder neu justiert werden. b) Dass die anderen die eigene Arbeit wertschätzen und anerkennen, ist einerseits ein völlig selbstloser Akt, der nur Bewunderung ist. Man wertschätzt die Leistung des anderen oder eigentlich diesen selbst in seiner Unmittelbarkeit (weil seine Leistung als unmittelbare Eigenschaft des Individuums erscheint), ohne etwas zurückzuverlangen, einfach in seiner Großartigkeit und um derentwillen. Andererseits liefert man sich mit der Bewunderung dem anderen aus, macht sich selbst weniger bewunderungswürdig, gibt auch Energie in die Bewunderung; und es geht daher zugleich darum, vom anderen zu profitieren: In der Sonne des bewunderten zu glänzen, von der zurückgegebenen Anerkennung und dem Dank des Bewunderten geehrt zu werden, von der Ausdehnung des Selbstwerts auf einen selbst zu profitieren.

Die Zwischenbezüge und Mechanismen des Selbst sind also immer ein vielfach verschlungenes Hin und Her und immer ein Einerseits-Andererseits, ohne dass jemals von der einen oder anderen Seite abstrahiert werden könnte oder dass eine Seite als die wesentliche gegenüber der anderen hervorgekehrt werden könnte, da jede Seite stets von der anderen abhängt.

Flirten: Das Flirten funktioniert nur mit einem hohen Selbstwert, weil man aus einer Position der eigenen Sicherheit und mit Selbstbewusstsein jemand anderem „spielerisch“ und „unverbindlich“ seine Bewunderung zu teil werden lässt. Wer andererseits ein niedrigeres Selbstbewusstsein hat und entsprechend „weniger Erfolg“ hat, der wird umso bedürftiger nach dem Flirten sein, andererseits dann auch kaum flirten können, weil er oder sie das Flirten mit dem Ziel verbindet, Erfolg zu haben. Aber wer auf diese Weise flirtet, der flirtet nicht, weil Flirten unverbindlich und nicht instrumentell erscheinen muss (was es nicht ist). Dadurch ist dann das Scheitern even more vorprogrammiert und das Selbstbewusstsein wird noch niedriger. – Flirten funktioniert nur aus einer solchen Position der Stärke heraus, aufgrund derer man für attraktiv gehalten wird; denn man zollt dem anderen Bewunderung und macht sich dadurch uninteressant. Flirten funktioniert dann und wird eine wechselseitige Interaktion, wenn der andere Mensch sich darauf einlässt und die Bewunderung zurückgibt, also nicht bloß das Kompliment aneignet, als Bewunderter dabei bleibt und seinen erhöhten Selbstwert genießt. – Andererseits ist das Flirten wiederum mit Arbeit oder Energie verbunden: Einerseits setzt, ein Kompliment zu geben, persönliches Engagement und Kraft voraus, nur wenn die Begeisterung für den anderen Menschen wirklich ist, ist das Flirten authentisch und kommt als Flirten an; es ist das eigene Gefühl, das hier in das Engagement kommen muss. Andererseits erhält man nur Komplimente oder wird nur angeflirtet, wenn man attraktiv erscheint, und diese Erscheinung beruht wiederum auf Voraussetzungen an Arbeit und Zeitaufwand (siehe oben: z. B. fitter Körper, modische Kleidung, geistreiche Bemerkungen).

5. Das Phantasma der reinen Selbstidentität

Diesem ganzen widersprüchlichen Hin und Her des Selbstwerts liegt allerdings ein Phantasma eines „reinen Selbstbewusstseins“ zugrunde. In den zwischenmenschlichen Verschlingungen des Selbstwerts macht sich ein reines Selbst, das selbst als solches, das nicht von den anderen abhängig ist, spürbar, als ein Phantasma des Ich = Ich, der Selbstidentität. Es scheint dem Selbstwert zugrunde zu liegen als harmonische Identität, oder der Selbstwert scheint nur möglich zu sein durch diese rein qualitative, nicht quantitative Selbstidentität und ist andererseits nie wirklich erreichbar. Es ist die ursprüngliche Gewissheit unserer selbst oder das, was wir als Selbst eigentlich sind.

Der konkrete Zusammenhang zwischen der Selbstidentität und der Verschlingung mit den anderen ist mir gerade nicht klar vor Augen und ich muss das später einmal ergänzen.

6. „Materie“ des Selbstwerts

Auch wenn die formalen Beziehungen des Selbstwerts immer dieselben sind, unterscheidet sich doch der Inhalt des jeweiligen Selbst und die „Materie“ der Quantität des Selbstwerts. Diese inhaltliche Seite des Selbstgefühls erscheint dabei immer als Eigenschaft dieses Selbstgefühls selbst, ist aber stets durch die Verhältnisse (mit ihren Tätigkeiten, Idealen, Normen), in denen dieses Individuum lebt, bestimmt, wobei dieser Kontext wiederum die innere Struktur des Selbstgefühls bestimmt. Ein Polizist zum Beispiel hat aufgrund seiner Aufgabe (meist) ein bestimmtes staatstreues, rechtschaffenes, obrigkeitshöriges, diszipliniertes, kameradschaftliches Selbstgefühl, meist mit recht hohem Selbstwert (abhängig vom Staat), obwohl dieses Selbstgefühl unmittelbar mit seiner Person selbst verbunden ist. Eine Wissenschaftlerin hat wiederum sein Selbstgefühl, aus dem heraus sie ihre Forschung macht, für sie einsteht und abhängig von ihren Leistungen frustriert ist oder sich gut fühlt. Entsprechendes ließe sich jeweils spezifisch ausführen etwa für eine Unternehmerin, die ein Unternehmen versucht aufzubauen, für einen angestellten Handwerker oder für eine Hausfrau.

7. Reduktion der Wechselbeziehungen

Es gibt verschiedene Modi, in denen aus diesem widersprüchlichen Hin und Her versucht wird auszubrechen und die versuchen, die Komplexität, Prekarität und Unabgeschlossenheit dieser Verschlingung herunterzubrechen und zu fixieren, obwohl das Hin und Her dabei nie zu Ende ist und sozusagen unsichtbar weitergeht. a) Beispielsweise ist die existentialistische Lösung, in einer Situation des Minderwertigkeitsgefühls und der Ohnmacht das Selbst als bloß individuelles, das man von Natur aus hat, zu hypostasieren und aus den Verschlingungen herauszulösen. Man hat seinen Selbstwert nur durch sich, ohne dass andere etwas dazu tun, und ist „in seinem Sein“ auch verlassen. Ansprüche von anderen und wirkliche Anerkennungsbeziehungen werden empört als Einschränkung zurückgewiesen, während man zugleich über ausbleibende Anerkennung des eigenen hohen Selbstwerts gekränkt ist oder bei stattfindender Anerkennung sich nicht dankbar und erkenntlich zeigt. b) Weiteres Beispiel ist die „Idee der Wechselseitigkeit“, die ein immerwährendes Füreinander und Solidarität hochhält, obwohl sie realiter auf den eigenen Selbstwert kuckt. c) Weiteres Beispiel ist der Altruismus, der sich immer aufopfert, immer selbstlos ist und doch in dieser Aufopferung seinen eigenen Selbstwert erhöhen will.

8. Entfremdung und Selbstbewusstsein

Die ganze Kritik an Identität und Selbstwert ist aber eine Kritik an Identität und Selbstwert als herrschenden Formen, die durch die bürgerlichen Privatbeziehungen und Isolationen produziert werden. Es ist also nicht so, dass Menschen kein Selbstbewusstsein haben oder keines haben sollen und dass das nur bürgerliche Ideologie ist. Zu kritisieren ist allerdings die quasi-natürlich Abhängigkeit, die Erscheinung der Unmittelbarkeit, der ständig lauernde Egoismus in seinem Umschlagen in Altruismus usw.

Daran kann ich mich erstmal nur herantasten. Es ist normal, dass Menschen ihre Tätigkeit und ihr Tun aus einem bestimmten Selbstgefühl heraus vollziehen und sich gut fühlen, wenn sie etwas geschafft haben. Es ist normal, eine Tätigkeit anzugehen, weil man ein bestimmtes Selbstbewusstsein darin hat, und es ist normal, sich mit sich einig zu fühlen, wenn man es geschafft hat, und sich frustriert zu fühlen (genervt zu sein, verärgert zu sein), wenn es nicht geklappt hat. Es ist normal, sich glücklich zu fühlen, wenn man geliebt wird und andere liebt. Es ist normal, sich gegenseitig zu bestärken und sich gegenseitig Kraft für eine Sache zu geben.

Der Unterschied liegt für die bürgerlichen Verhältnisse jedoch darin, dass die eigene Arbeit, aufgrund derer man den Selbstwert erhöht, keine gemeinschaftliche Arbeit ist, sondern Privatarbeit, und daher mit dieser Unsicherheit behaftet ist, ob sie bei andern Erfolg hat. Der Unterschied liegt weiter darin, dass die Erhöhung des Selbstwerts als solches das Ziel ist, als egoistisches Motiv. Der Unterschied ist auch, dass die Bewunderung für andere, die eigentlich die Gemeinschaft bestärken sollte, im Bestehenden immer ein Risiko darstellt, die Attraktivität senkt und Gemeinschaft tatsächlich zerstört.