Sonntag vor einer Woche habe ich nach mühevoller Arbeit endlich meinen Aufsatz zur Philosophiekritik von Marx abgegeben. Nur, um ein paar Tage später zu merken, dass ich einen wesentlichen Punkt nicht erkannt hatte, ihn nicht expliziert hatte und dass dadurch der ganze Aufsatz wahrscheinlich unverständlich wird. (Der Aufsatz wird in wenigen Wochen in dem Sammelband „Auf den Schultern von Marx“ erscheinen.)
Der Punkt ist: Philosophie ist ein gesellschaftliches Verhältnis, aber nicht nur strukturell und äußerlich – so habe ich es schon expliziert –, sondern immanent. Der philosophische Begriff und die Reflexionsweise der Philosophie ist immanent ein gesellschaftliches Verhältnis, d. h. er ist nicht bloß der Begriff der Individuen, die philosophisch denken, sondern er greift über dieses Individuum hinaus auf die Gesellschaft, deren konkrete Probleme und Praxen über. Nur in der Entfremdung der kapitalistischen Gesellschaft ist der philosophische Begriff das „Privateigentum“ und die isolierte Praxis von Einzelnen, aber in dieser Entfremdung ist der philosophische Begriff zugleich Reflexion der gesellschaftlichen Praxis.
Sichtbar wird das auch dadurch, dass die Philosophie überall die verschiedenen Probleme repräsentiert und reflektiert und dabei auch von den verschiedenen gesellschaftlich gültigen/herrschenden Subjekt-Positionen aus denkt (z. B. konservativ, liberal, gender mainstreaming, Ästhetisierung usw.). Die Reflexion von Forschungspraxis in der Philosophie ist hier auch nur ein Fall der allgemeinen Praxis.
Marx macht diesen Punkt eigentlich (ich zitiere das, ohne es vollständig zu begreifen):
„[…] der philosophische Geist […] ist […] der innerhalb seiner Selbstentfremdung denkend, d.h. abstrakt sich erfassende entfremdete Geist der Welt.“ (MEW 40, 571)
Das heißt, der philosophische Geist ist der Geist der Welt, also der allgemeine Geist der Gesellschaft, aber eben abstrakt und entfremdet als bloßer Privat-Geist der Philosophie.
Vergleiche dies auch Hegel: „Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst.“
Philosophie ist daher nicht nur das Privatvergnügen von Philosophen, sondern in deren Isolation und Vereinzelung „reflektiert sich“ (wenn man das so sagen kann) auf elitäre Weise die Praxis selbst in ihrem Problemen. In einer befreiten Gesellschaft wäre diese grundsätzliche Selbstreflexion der Praxis nicht so privatisiert, sondern es wäre ein kollektiver und offener Kommunikations- und Reflexionsprozess.
Von hier aus wird dann auch die Marxsche These klar, wenn er sagt, dass es die Hauptsache ist, dass die Philosophie ihren Gegenstand „überwindet“ (MEW 40, 575). Insofern die Philosophie nur aus den philosophierenden Individuen besteht, ist diese Überwindung eine bloße Illusion und Anmaßung dieser Individuen. Da allerdings die Philosophie ein gesellschaftliches Verhältnis ist, ist die „Überwindung des Gegenstands“ genau das, was es ist: In der Produktion des philosophischen Begriffs wird der Gegenstand real überwunden, weil dieser philosophische Begriff als eine Abstraktion existiert, die über die philosophierenden Individuen hinausgreift und ein Verhältnis in der Praxis ist. Die „Überwindung des Gegenstands“ ist das, was wirklich passiert, insofern die grundsätzliche Selbstreflexion der Praxis den Menschen entfremdet ist und die Philosophie ihre Lösung in einer Abstraktion unabhängig und losgelöst von der Praxis erhält.