Von heute aus scheint es, dass die 70er und 80er Jahre geradezu Hochzeiten der Dialektik waren, während sie heute fast nur noch mehr ein mythisches Raunen aus früheren Zeiten ist. Wenn man sich die Sache genau ansieht, dann sehen diese Zeiten gar nicht mehr so rosig aus. Wir müssen weder diesen Zeiten nachjammern noch die sogenannte Dialektik dieser Zeit versuchen auszugraben und zu verstehen.
Materialistische Dialektik bedeutet, die Konstitutionsbedingungen, Funktionen, herrschenden Abstraktionen und Dynamiken einer entfremdeten Form darzustellen und so die praktischen Bedingungen der Emanzipation von dieser Form aufzuzeigen, z. B. des Rassismus, des Imperialismus oder des Kapitals.
Heute genießt solche Dialektik keinen guten Ruf mehr und kaum jemand studiert das noch, und noch weniger werden konkrete Arbeiten in dialektischer Methode erstellt. Demgegenüber scheinen die Jahre nach 68 Hochzeiten dialektischen Denkens gewesen zu sein, in der die Linke sich breitenwirksam mit Marx, Hegel, Adorno befasst hätten und das auch irgendwie in den öffentlichen Diskurs eingebracht hatte.
Allerdings war diese damalige Dialektik-Diskussion extrem scholastisch und ein schlecht philosophischer Hegelianismus, der auch Hegel selbst nicht gerecht wurde. Zwar ging es auf dem Niveau der abstrakten Theorie sehr dialektisch zu, nicht aber in der konkreten Forschung und Untersuchung der Empirie. Zu dialektischer Theorie gehört ganz grundlegend, dass „Theorie“ und „Empirie“ nicht mehr getrennt sind. Aber gerade das ist in den 70ern und 80ern Jahren passiert. Es gab einerseits extrem reflektierte Diskussionen über Dialektik bei Hegel, Adorno, Marx, dann auch bei Freud oder Kant; andererseits war aber die Forschung zu konkreten Gegenständen davon getrennt, sie war „saubere“ Forschung und konnte sich so auch in die akademischen Disziplingrenzen einfügen.
Die Gestalt Jürgen Ritserts (Adorno-Schüler in Frankfurt) ist hier exemplarisch. Ritsert schreibt auf der einen Seite stapelweise Bücher über Dialektik, auf der anderen Seite fordert er klassische Sozialforschung ein und verteidigt sie, und sagt schließlich auch: „Der Positivismusstreit war kein Positivismustreit, weil Adorno selbst positivistische Sozialforschung betrieben hat.“ Nun ja, und ich würde sagen, damit hat er in gewissem Sinn auch recht. Ich würde meinen, dass diese scharfe Trennung zwischen dialektischer abstrakter Theorie und konkreter Forschung zuerst von Adorno ausgearbeitet wurde. Adorno hat auf der einen Seite eine unglaublich dialektische Reflexion innerhalb der Philosophie (Negative Dialektik), auf der anderen Seite macht er aber klassische undialektische Sozialforschung (Studien zum autoritären Charakter), und er vermittelt das beides nicht.
Man kann diesen scharfen Schnitt m. E. heute noch sehen, wenn zum Beispiel in der kritischen Psychoanalyse heute einerseits Freud mit Hegel diskutiert wird, auf der anderen Seite dann doch wieder in der Sozialpsychologie bloß „irrationale“ Psychologien untersucht werden, und in der Therapie es letztlich darum geht, wieder das autonome bürgerliche Subjekt zu werden. Oder bei Andreas Arndt, der Hegels Logik auf unglaublichem Niveau erklären kann, der aber, wenn es dann ins Konkrete geht (Staat, Ökonomie, Kunst), zu einem bürgerlichen Apologeten wird, der ein bestimmtes Ideal von Staat (Demokratie, Freiheit) und Ökonomie (Gerechtigkeit) im Kopf hat und dann Hegel selbst, was diese sogenannte Realphilosophie angeht, undialektisch interpretiert.
Nichtsdestotrotz ist heute die Situation für die Dialektik nochmal düsterer, weil nicht mal mehr auf dem Niveau der abstrakten Theorie über Dialektik diskutiert wird, und Dialektik eher so ein linker evergreen ist, mit dem man sich eigentlich mal beschäftigen müsste, das aber doch irgendwie zu kompliziert ist und für die Praxis nicht wirklich was bringt, so dass man dann lieber so konkrete Sachen wie Federici liest. Zeit, die Dialektik aus dieser angestaubten, praxisfernen und professoralen Studierstube zu befreien.