Die Linkspartei nach der Europawahl

Der ehemalige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Jan van Aken hat im „Freitag“ im Nachgang zur Europawahl mit dem desaströsen Ergebnis für die Linkspartei van 2,7 Prozent Thesen zur Erneuerung der Partei geschrieben. Ich finde seine einzelnen Forderungen nicht falsch (Mandate auf Zeit, Kita-Plätze fordern), aber mir fehlt in seinen Thesen die Erkenntnis, dass die Partei in einer wirklich tiefen Krise ist, aus der nur eine sehr grundlegende Neuausrichtung und Restrukturierung herausführen kann. Van Aken behauptet einfach, „dass wir die Talsohle jetzt durchschritten haben“, ab jetzt könne es nach vorne gehen, und das einzige Argument ist, dass er hoffnungsvolle Zeichen sieht.

Die krasse Wahlniederlage macht vielmehr offiziell, dass es einen wirklichen Bruch mit dem Bisherigen und eine inhaltlich-programmatische Neuausrichtung braucht. Dazu hier einige Überlegungen.

Es gibt zwar seit einiger Zeit einen Erneuerungsdiskurs (anders als bei van Aken, der aber meines Wissens auch dem Reformer-Lager zuzurechnen ist), der fordert, es mit der Kapitalismuskritik und dem Sozialismus ernster zu nehmen, und der zum Beispiel auf links-bewegt.de, im nd und auf dem LuXemburg-Blog geführt wird. Etwa hier van Thomas Goes direkt nach der Wahl eine relativ ausführlich Wahl-Analyse mit strategischen Schlussfolgerungen: https://www.links-bewegt.de/de/article/875.stolpern-hinfallen-und-aufstehen.html.

Dieser Erneuerungsdiskurs hat zwei Richtungen, die den gehabten beiden Lagern in der Partei entsprechen, die es auch in den letzten Jahren nicht geschafft haben, eine wirkliche Vermittlung zu finden: zum einen eine klassenpolitische Richtung, die den Fokus auf die materielle Bedrängnis der Arbeiterinnenklasse setzt, zum andern eine aktivistische Richtung, die den Fokus auf Kampf gegen Unterdrückung und auf Umweltpolitik setzt.

Es gab vor der Wahl den Versuch einer dezenten Reformierung in genau diesen beiden Richtungen, so dass die Strategie im Wahlkampf einerseits ein bisschen in Richtung der kämpferischen sozialen Bewegungen ging (wofür die Ernennung Carola Racketes steht), und ein bisschen mehr klassenpolitischen Fokus auf materiell-ökonomischen Probleme der Arbeitenden setzt.

Dieser Streit, in welche der beiden Richtungen die linksverschiebende Erneuerung gehen soll oder ob man versuchen soll, sie beide zu verbinden, lenkt aber davon ab, dass beide Erneuerungsrichtungen letztlich nur versuchen, auf dem politischen Terrain der Sozialdemokratie bzw. der Grünen mehr zu fordern. Wenn es um sozialpolitische oder auch menschenrechtlich-umweltpolitische Forderungen geht, dann macht es viel mehr Sinn, die SPD oder die Grünen zu wählen, weil diese beiden Parteien – wie auch immer realpolitisch verwässert – tatsächliche Perspektiven auf zumindest ansatzweise Umsetzung dieser Forderungen haben.

Was die Partei bräuchte, wäre stattdessen eine parlamentarische Politik, die aus einem Bruch mit dem kapitalistischen System heraus denkt; die aus dieser antikapitalistischen Haltung heraus Kritik an aktuellen politischen Debatten und Regierungsprojekten übt und politische Forderungen stellt, die auf einen Bruch mit dem kapitalistischen System abzielen (das wäre mehr bzw. etwas qualitative anderes als Mindestlohn und mehr Kita-Plätze).

Es ist sehr viel Unmut, Frustration, Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Viele Menschen haben ein sehr klares Bewusstsein über die harten und härter werdenden Probleme, die sie selbst haben und in denen die ganze Gesellschaft steckt. Diese Wahrnehmung des „Richtig krass falsch Laufens“, die im Prinzip einen Bruch mit dem System fordert, wird aber nur von AfD und BSW aufgegriffen, nicht von der Linkspartei, die vielmehr so auftritt, dass mit guten linken Reformideen dieses Falsch-Laufen verändert werden kann, und die durch ihre Regierungsbeteiligungen, Kompromisse, gebrochenen Wahlversprechen und Duldung der Zerrüttung von innen heraus als unglaubwürdig erscheint. Diese Probleme hängen am Reformismus und dem Willen auf Machtoptionen und ich sehe bisher nicht, dass sie wirklich aufgearbeitet werden.

Die Linkspartei müsste demgegenüber als Partei wahrgenommen werden, die für eine echte Alternative zum Bestehenden steht. Das aber nicht als Versprechen, Utopie oder Hoffnung, sondern dargestellte Notwendigkeit und als konkrete Überlegung, wie das praktisch aufzubauen ist.

Die große Schwierigkeit besteht darin, tatsächlich „revolutionäre Realpolitik“ zu entwickeln, die nicht nur eine Systemkritik und Systemalternative unternimmt, sondern auch konkret nützlich ist. Die ganze Perspektive und Neuausrichtung hier zu entwickeln ist extrem schwierig und erfordert sehr theoretische Arbeit, Diskussion und praktischen Umbau, aber dieser Punkt der konkreten Wirksamkeit der Politik der Linkspartei ist am Allerschwierigsten. Hier darf die Partei nicht in Surrogate wie die „Kümmererpartei“ und die Entwicklung einer alternativen Sozialen Arbeit verfallen, sondern müsste diese Wirksamkeit als parlamentarische konkrete Nützlichkeit entfalten, d.h. durch scharfe Kritik im parlamentarischen Diskurs und in der Öffentlichkeit, durch Aufdeckungs- und Entlarvungsarbeit und durch parlamentarische Unterstützung und Rückendeckung für konkrete Kämpfe im Alltag.

Den Anfang müsste allerdings die Erkenntnis machen, dass die Partei sich in einem wirklich großen Loch befindet, einer strukturellen Krise, aus der keine schnellen Lösungen, sondern nur eine langfristige und mühevolle Selbstkritik und Restrukturierungsarbeit herausführen können.

Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Wir können wir diese Richtung als Strömung aufbauen und damit in den parteiinternen Diskurs einbringen?

Nachtrag

Ich habe in meinem Text einige Dinge missverständlich ausgedrückt und versuche das zu korrigieren:

Mit „Strömung“ meinte ich nicht die parteiinterne formale Struktur, die auch „Strömung“ heißt, sondern eine echte politisch-inhaltliche Strömung, die für eine bestimmte Richtung argumentiert und eintritt. Mir fällt jetzt kein anderes Wort als Strömung dafür ein, deswegen würde ich das Wort erstmal weiterverwenden. Man kann diese politisch-inhaltliche Strömung natürlich auch als formale „Partei-Strömung“ anmelden, aber um das gings mir nicht. Unabhängig davon wird man nicht umhin kommen, dass – wenn man Einfluss in der Partei erreichen will – auf Posten und Delegiertenpositionen hinstrebt.

Mit meinem Fokus auf die inhaltlich-programmatische Neuausrichtung wollte ich nicht sagen, dass die Arbeit an der Basis und in den Ortsgruppen überflüssig wäre, im Gegenteil. Diese Arbeit ist extrem wichtig.

Ich versuche mein grundsätzliches Argument nochmal klarer zu fassen. Es ist ein funktionalistisches Argument: Die Lücke im bürgerlichen Parteienspektrum, die die neoliberalisierte SPD Anfang der 2000er Jahre durch die Agenda 2010 hinterlassen hatte, ermöglichte die Gründung der Linkspartei. Sie konnte die Funktion im bürgerlichen Parteienspektrum übernehmen, die für soziale Gerechtigkeit steht. Da die SPD sich seit einigen Jahren von der Agenda 2010 distanziert und wieder selbst sozialpolitische Forderungen aufstellt (und auch in der Regierung umsetzen kann), hat eine bürgerlich verfasste Linkspartei ihre Funktion verloren und wird daher nicht mehr gewählt. Meine Schlussfolgerung ist, dass die Linkspartei zu einer offensiv antikapitalistischen Partei werden muss, um zu „überleben“, im Sinne der 5-Prozent-Hürde im Bundestag.