Die „Pariser Manuskripte“ im „Anti-Ödipus“

Der Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari bezieht sich mindestens 13 Mal positiv auf die Pariser Manuskripte, darüber hinaus auch auf andere Frühschriften. Sie brechen also mit Althussers strukturalistischer Marx-Lektüre und seiner These des „epistemologischen Bruchs“ und eröffnen eine aufregende und – wie ich meine – sehr emanzipatorische und nicht mehr „humanistische“ Lektüre der Frühschriften, insbesondere des Begriffs des „menschlichen Wesens“.

Das zeigt allerdings, dass Deleuze/Guattari einen deutlichen Bruch mit dem Strukturalismus vornehmen, also nicht nur mit dem Strukturalismus Lacans, um den es im Anti-Ödipus hauptsächlich geht, sondern auch mit dem marxistischen Strukturalismus Althussers – gerade durch die Bezugnahme auf die Frühschriften im genannten Pariser Kontext.

Das ist zunächst insofern bemerkenswert, als Althusser die Pariser Manuskripte 1965 in Für Marx sozusagen sehr lautstark als ideologisch-humanistisch von den späteren sogenannten „wissenschaftlichen Werken“ abgetrennt hat. Deleuze/Guattari beziehen sich im Anti-Ödipus nur ganz wenig auf Althusser, auf Für Marx gar nicht, aber sie müssen als Pariser Intellektuelle und Marxisten diese Thesen von Althusser mitbekommen haben.

Was macht man nun aus diesen durchaus häufigen und positiven Bezugnahmen auf die Pariser Manuskripte?

Stellt der Anti-Ödipus eine Aufnahme und Fortführung der Pariser Manuskripte dar? – Das würde das Gewicht der Pariser Manuskripte im Anti-Ödipus wahrscheinlich überschätzen. Deleuze/Guattari arbeiten mit den Pariser Manuskripten; nur am Rande übernehmen sie wirklich Argumente oder Begriffe (Entfremdung, Gattungsleben, menschliches Wesen). Sie scheinen sich eher – zumindest was die Pariser Manuskripte angeht – durch die Autorität Marx abzusichern sowie Beobachtungen von Marx zu verwenden.

Kann man durch den Anti-Ödipus im Verständnis der Pariser Manuskripte weiterkommen? – Das scheint mir der Fall zu sein. Die vorherrschenden Lektüren interpretieren das „menschliche Wesen“ als ein Kern des Individuums, und sehen das dann entweder positiv (Marcuse, Sartre) oder negativ (Althusser). Diese Lektüren sind natürlich völliger Quatsch, und der Kontext des Anti-Ödipus mit dem kollektiven, produktiven und übersubjektiven Begehren, das man nicht von Gesellschaft und Arbeit trennen kann, ist hier sehr hilfreich und produktiv für ein besseres Verständnis der Pariser Manuskripte.

Enthält er eine ausgearbeitete Lektüre der Pariser Manuskripte? – Auf keinen Fall. Es gibt einfach eine Reihe von Bezugnahmen, die natürlich auf einer Lektüre mit einer deutlichen Richtung beruhen, aber das ist weit entfernt von irgendeiner Form von ausführlicherer oder umfassenderer Lektüre. Man kann also auch nicht umgekehrt die Pariser Manuskripte unter Stützung auf den Anti-Ödipus lesen.

Es folgen 13 implizite und explizite Bezugnahmen des Anti-Ödipus (Suhrkamp, 1973) auf die Pariser Manuskripte, wobei der Anti-Ödipus direkte Zitate teilweise nicht ausweist. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das heißt ich habe das Buch nicht akribisch durchgearbeitet, umso weniger als die Bezugnahmen wie gesagt teils versteckt sind.

In eckigen Klammern und gefettet sind die Seiten in MEW 40 angegeben, auf die Deleuze/Guattari sich beziehen. Der Anti-Ödipus bezieht sich im Übrigen noch an etlichen anderen Stellen auf Marx (v. a. Grundrisse und Kapital, Bd. 1 und 3, sowie verschiedene Frühschriften), die hier aber außen vor bleiben.

1. „Lenz hat die Ebene des Bruchs von Mensch und Natur hinter sich gelassen und befindet sich damit außerhalb der von dieser Trennung bedingten Orientierungsmuster. Er erlebt die Natur nicht als Natur, sondern als Produktionsprozeß. Nicht Mensch noch Natur sind mehr vorhanden, sondern einzig Prozesse, die das eine im anderen erzeugen und die Maschinen aneinanderkoppeln. Überall Produktions- oder Wunschmaschinen, die schizophrenen Maschinen, das umfassende Gattungsleben [515f]: Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen wollen nichts mehr besagen.“ (8)

2. „Zum zweiten besteht keine Unterscheidung mehr zwischen Mensch und Natur: das menschliche Wesen der Natur und das natürliche Wesen des Menschen werden in der Natur als Produktion oder Industrie, das heißt gleichermaßen im Gattungsleben [515f] der Menschen, identisch [538]. Die Industrie wird in diesem Falle nicht mehr unter einem äußerlichen Verhältnis der Nützlichkeit [542] begriffen, vielmehr in ihrer fundamentalen Identität mit der Natur als Produktion des Menschen und durch den Menschen.“ (10)

An dieser Stelle machen Deleuze/Guattari folgenden Literaturverweis: „Zur Identität von Natur und Produktion sowie zum menschlichen Gattungsleben nach Marx vgl. Gérard Granel, ‚L’Ontologie marxiste de 1844 et la question de la coupure‘, in: L’Endurance de la pensée, Plon 1968, S. 301-310.

3. „Denn noch das Leiden ist Selbstgenuß des Menschen, wie Marx sagt. [540]“ (24)

4. „Eine besondere Existenzform, die psychologische Realität genannt werden könnte, existiert nicht. Wie Marx sagt, gibt es keinen Mangel, sondern nur die Leidenschaft als natürliches und sinnliches, gegenständliches Wesen [562f].“ (36)

5. „Denn das Unbewußte ist elternlos – es erzeugt sich selbst in der Einheit von Natur und Mensch [546]. Diese Selbsterzeugung des Unbewußten wird genau dort offenbar, wo das Subjekt des cartesianischen Cogito sich seiner ohne Eltern innewird, wie dort, wo der sozialistische Denker in der Produktion die Einheit der Natur und des Menschen aufdeckt [545f], dort, wo der Zyklus gegenüber der unbegrenzten elterlichen Regression seine Unabhängigkeit bloßlegt.“ (61)

6. „Erinnern wir uns des großen Ausspruchs von Marx: wer Gott negiert, begeht einen sekundären, durch Aufhebung vermittelten Akt, denn er negiert Gott, um die Existenz des Menschen zu setzen, um den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen (eingedenk der Transformationen). [explizites Zitat: 546] Aber jener, der weiß, daß der Platz des Menschen ganz woanders liegt, im gemeinsamen Dasein von Mensch und Natur, der wird nicht einmal mehr die Möglichkeit einer solchen Frage nach ‚einem Wesen über der Natur und dem Menschen‘ zugestehen: er bedarf dieser Vermittlung, des Mythos, nicht mehr, er bedarf des Durchgangs dieser Vermittlung, der Negation der Existenz Gottes, nicht mehr, weil er in die Regionen der Selbsterzeugung des Unbewußten schon vorgestoßen ist, in denen das Unbewußte atheistisch wie alternlos [sic!], unmittelbar elternlos, unmittelbar atheistisch, ist.“ (73f) [Nota Bene: Das ganze Zitat paraphrasiert durchweg die Stelle auf 546]

7. „‚Vater‘ und ‚Gott‘, das ist beides die gleiche Frage: aus der Abstraktion geboren, unterstellt sie, das Band zwischen Mensch und Natur, Mensch und Welt sei zerrissen, so daß der Mensch als solcher von etwas der Natur und dem Menschen Äußerem erschaffen werden müsse. Diesbezüglich bemerkt Nietzsche ähnlich wie Marx und Engels [explizites Zitat: 545] […]“ (139) [Nota Bene: Der Verweis auf die Pariser Manuskripte bezieht sich auf die Abstraktion auf 545]

8. „Der Kapitalismus, die zivilisierte Maschine aber wird sich als erste auf der Konjunktion etablieren. Nun bezeichnet die Konjunktion nicht nur Reste, die der Decodierung entgingen, nicht Verzehr und Verbrauch wie in den primitiven Festen, noch gar ‚Höchstmaß an Konsumtion‘ im Luxus des Despoten und seiner Agenten. Nimmt die Konjunktion einmal den ersten Rang innerhalb der Gesellschaftsmaschine ein, so wird im Gegenteil deutlich, daß sie sich vom Genuß und der konsumtiven Ausschweifung einer Klasse entbindet, daß sie den Luxus gerade zu Investitionsmittel macht und alle decodierten Ströme auf die Produktion aufträgt [556], innerhalb eines ‚Produzierens um des Produzierens willen‘, das die primitiven Arbeitskonnexionen allein unter der Bedingung wiederfindet, daß es sie am Kapital als neuem deterritorialisierten Körper festmacht, dem wahren Verbraucher, dessen Emanationen sie zu sein scheinen (wie in dem von Marx beschriebenen Teufelspakt der ‚Industrieeunuchen‘: lieber Freund, ich gebe dir, was dir nötig ist; aber… [explizites Zitat: 547]“ (288)

9. „Zuweilen spielt Marx auf die goldene Zeit des Kapitalisten an, in der dieser seinen eigenen Zynismus noch nicht verbarg: am Anfang zumal konnte er nicht ignorieren, was er tat, nämlich den Mehrwert herauspressen [531].“ (307)

10. „Marx hat das Fundament der politischen Ökonomie bloßgelegt: die Aufdeckung eines abstrakten subjektiven Wesens des Reichtums in der Arbeit oder der Produktion – man könnte gleichermaßen auch sagen: im Wunsch – (‚Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith, jede Bestimmtheit der reichtumerzeugenden Tätigkeit fortzuwerfen – Arbeit schlechthin, weder Manufaktur-, noch kommerzielle, noch Agrikulturarbeit, aber sowohl die eine wie die andere … abstrakte Allgemeinheit der reichtumschaffenden Tätigkeit …‘ [explizites Zitat, aber aus den Grundrissen]). [explizites Zitat: 530ff] Hier für die große Bewegung der Decodierung oder Deterritorialisierung: die Natur wird nicht auf der Seite des Gegenstandes, in äußeren Bedingungen gesucht, der Territorial- oder Despotenmaschine. Aber Marx fügt sogleich hinzu, daß diese wesentlich ‚zynische‘ Entdeckung sich durch eine neue Territorialität, gleich einem neuen Fetischismus oder einer neuen ‚Heuchelei‘, korrigiert findet. Die Produktion als abstraktes subjektives Wesen wird nur in den Formen des Eigentums aufgedeckt, das sie erneut vergegenständlicht, sie entfremdet, indem es sie reterritorialisiert. Nicht nur die Merkantilisten, obgleich die subjektive Natur des Reichtums ahnend, hatten sie als eine besondere, noch an eine despotische ‚geldmachende‘ Maschine gebundene Tätigkeit bestimmt; nicht nur die Physiokraten, diese Ahnung weitertreibend, hatten die subjektive Tätigkeit an eine territorialisierte oder reterritorialisierte Maschine in Form der Landwirtschaft oder des Grundeigentums gebunden – vielmehr vermochte selbst Adam Smith das abstrakte und subjektive, industrielle und deterritorialisierte Wesen des Reichtums nur bloßzulegen, indem er es zugleich in Privateigentum an Produktionsmitteln erneut territorialisierte.“ (334f) [Nota Bene: Das ganze Zitat bezieht sich auf die angegebene Stelle 530ff]

11. „Wie Marx ausführt, wird im Kapitalismus das Wesen subjektiv, produktive Tätigkeit überhaupt, wird die abstrakte Arbeit etwas Reales [530] […]“ (389).

12. „Marx gibt ein Resümee dieser Entwicklung und erklärt, daß das abstrakt-subjektive Wesen durch den Kapitalismus nur enthüllt worden sei, um aufs neue angekettet und entfremdet zu werden, doch nicht mehr wie einst auf der Grundlage eines äußerlichen und gegenständlichen, unabhängigen Elements, sondern vermittels des selbst subjektiven Elements des Privateigentums [530f]: ‚Was früher Sichäußerlichsein, reale Entäußerung des Menschen, ist nun zur Tat der Entäußerung, zur Veräußerung geworden.‘ [unausgewiesenes Zitat: 531]“ (390f)

13. „Diesem kommt nun die Aufgabe zu, das subjektive Wesen (Wesensidentität) in zwei Funktionen zu spalten, jene im Privateigentum entfremdete, abstrakte Arbeit [511f], die die inneren Grenzen auf stets erweiterter Stufenleiter reproduziert, und jene des in der Privatfamilie entfremdeten abstrakten Wunsches, der die immer enger werdenden interiorisierten Grenzen verschiebt.“ (436)

Eine Anmerkung zum Entfremdungsbegriff: Dieser kommt in Bezug auf die entfremdete Arbeit nur an dieser einen Stelle vor. Der Anti-Ödipus verwendet ihn darüber hinaus immer wieder, aber immer in psychologischer Bedeutung.