Eine neue Hegel-Lektüre?

Zur Zeit zieht die Rede von einer “neuen Hegel-Lektüre” und einer „Hegel-Renaissance“ sehr viel Aufmerksamkeit auf sich:

So habe die französische postmoderne Philosophie in den letzten Jahrzehnten Hegel aufs Schärfste bekämpft. In der akademischen Welt habe es darum sogar einen regelrechten Bann über dem Hegelianismus gegeben, lange Zeit sei es deshalb nicht möglich gewesen, sich im Zuge akademischer Karrieren mit ihm auseinanderzusetzen.

Doch jetzt wird es sozusagen endlich Licht: Philosophen wie Slavoj Žižek, Jean-Luc Nancy oder Alain Badiou seien gegen den postmodernen Zeitgeist angetreten, ihn mit einer neuen Hegel-Lektüre, „a new reading of Hegel“, wieder zu etablieren. Mit Erfolg: Denn derzeit erlebten wir eine Hegel-Renaissance. Die sei auch politisch an der Zeit, denn die Erneuerung der Welt tut not – und dafür bräuchten wir Hegel.

Ein Gespenst geht um in …

Dieses Narrativ findet sich ungefähr so etwa in Slavoj Žižeks, Frank Rudas und Agon Hamzas gemeinschaftlichem Werk Reading Hegel von 2021. Dort kleiden sie es sogar in die Anfangssätze des Kommunistischen Manifests: „A spirit is haunting contemporary thought – the spirit of Hegel. All the powers of academia have entered into a holy alliance to exorcize this spirit.”

Ähnlich schreibt Alain Badiou in einer Rezension von The Dash. The Other Side of Absolute Knowing von Rebecca Comay und Frank Ruda, das ebenfalls als Teil der aktuellen Hegel-Renaissance gilt: „It was a common tendency of recent French philosophy – Foucault and Deleuze as much as Althusser – to rise up in arms against the totalitarianism and idealism of the Hegelian dialectic.”

Und der Facebook-User René Troy Tun schreibt in einem Post zu Hegels 254. Geburtstag: „But recent new ways of reading Hegel have risen him back from the grave.”

Rebecca Comay und Frank Ruda schließlich pointieren die politische Bedeutung Hegels (wiederum eingekleidet in ein Marx-Zitat, das mir nahezulegen scheint, dass es eigentlich um einen Hegelmarxismus zu gehen scheint, nicht einfach nur um Hegel) folgendermaßen: „Philosophers have hitherto only interpreted the world. For Hegel the point is to lose it – to delete it, suspend it, destroy it, dash it to pieces – to refuse the world as we know it and create a new one. The point is to punctuate history – to get the point, to get to the point, to bring things to the point of transformation.”

Auch Frederic Jamesons The Hegel Variations stimmt bereits im Jahr 2010 auf das Narrativ einer „neuen Hegel-Lektüre“ ein: „In this major new study, … Fredric Jameson offers a new reading of Hegel’s foundational text Phenomenology of Spirit. In contrast to those who see the Phenomenology as a closed system ending with Absolute Spirit, Jameson’s reading presents an open work …“ (Klappentext)

Bann über Hegel

Es fragt sich, in welchem Sinne genau der Hegelianismus „gebannt“ gewesen sein soll, und worin genau die Hegel-Renaissance besteht, über die hier gesprochen wird. Žižek selbst ist einer der populärsten und erfolgreichsten Philosophen weltweit – und dies nicht erst seit einigen Jahren. Inwiefern wäre er gebannt gewesen? Aber auch für die akademische Landschaft insgesamt sehe ich einen solchen „Bann“ nicht: Definitiv nicht für die deutschsprachige Akademie, aber eigentlich auch nicht – ich kann das m. E. zumindest grob beurteilen – für die frankophone und anglophone Welt. Dort scheint es mir seit langem eine große Zahl intensiver Forschungen zu Hegel zu geben, beispielsweise Jacques d’Hondt, Franck Fischbach, Charles Taylor, Terry Pinkard – um nur einige zu nennen.

Die Diagnose des unmöglich gewordenen Hegelianismus ist richtig und falsch zugleich.

Einerseits – ja, sie stimmt: Die Bedeutung Hegels innerhalb der Akademie ist vor einigen Jahrzehnten geschwunden, und das hat cum grano salis mit denjenigen Tendenzen zu tun, zu denen auch die „French Theory“ gehört. Das betrifft aber in aller erster Linie die sogenannten Einzelwissenschaften, nicht die Philosophie. Es hat in den letzten Jahrzehnten tatsächlich eine Separierung dieser Einzelwissenschaften von Hegel stattgefunden. Ein bis in die 1970er Jahre selbstverständlicher Bezug auf Hegels materiale Theorien in Fächern wie Kunstgeschichte, Politikwissenschaften, Soziologie scheint seit etwa 1980 nicht mehr möglich zu sein. Beispielsweise gehörte Hegel zur regelmäßigen Lehre des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt, unterrichtet von Dozenten wie Oskar Negt, Jürgen Ritsert, Franz Grubauer, Heinz Steinert oder Diethard Behrens. Also ausdrücklich nicht in der Philosophie und nicht in einer philosophischen Lektüre. Gesellschaftstheorie und Dialektik früher, zur regelmäßigen Lehre des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften. (In Frankfurt muss man allerdings den besonderen Stellenwert Hegels in der Frankfurter Schule berücksichtigen).

Andererseits – nein, sie stimmt nicht: Innerhalb der Philosophie hat es vielmehr in den letzten Jahrzehnten zwei überaus intensive und einflussreiche Hegel-Diskurse von internationalem Rang gegeben, die nach wie vor lebendig sind und fortgesetzt werden (in denen sich der innerphilosophische Hegelianismus jedoch bei weitem erschöpft):

  1. Ein sozialphilosophischer Hegel-Diskurs um die Frankfurter Schule seit Habermas herum. Zu ihm sind etwa Charles Taylor, Axel Honneth, Robert Brandom zu rechnen. (Interessanterweise wurde eben dieser Diskurs Anfang der 2000er als Hegel-Renaissance bezeichnet; vgl. Erzsébet Rózsa in ihrem Beitrag in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heute, 2004, hrsg. von Andreas Arndt and Ernst Müller.)
  2. Ein philologisch-begriffsrekonstruktiver Diskurs, der eine umfassende philologische Aufarbeitung Hegels sowie immanente Rekonstruktionen zu spezifischen Themen verfolgt hat. Zu ihm sind etwa Otto Pöggeler, Walter Jaeschke, Andreas Arndt zu rechnen.

In welcher Hinsicht können Žižek, Badiou et al. dann aber zu ihrer Diagnose kommen? Es scheint ihnen um den Totalitätsanspruch Hegels zu gehen, also diese Mega-Thesen wie das Absolute, „Das Ganze ist das Wahre“, die Vollständigkeit des Systems. Es ist andererseits gerade dieser Totalitätsanspruch, der von den gegenwärtigen Hegel-Lektüren entweder (obenstehender Diskurs 1) zurückgewiesen wurde, um den Zugriff auf Partialtheoreme möglich zu machen, oder (obenstehender Diskurs 2) so reinterpretiert und reduziert wurde, dass er mit einem positivistischen und positiven Weltbild kompatibel wurde.

Die Frage ist dabei allerdings, ob sie diesen Totalitätsanspruch Hegels wirklich einlösen, also die Totalität als konkrete aus gegenstandsbezogenen Detailuntersuchungen systematisch konstruieren, oder eher als philosophischen Begriff reflektieren (und dabei sicherlich auch reflektieren, dass die Totalität aus ihren Teilen konstruiert werden muss – ohne dies aber wirklich zu tun). Die Frage ist, ob sie zwar Hegels Totalitätsanspruch gegen die bisherigen Hegel-Lektüren erfolgreich neu etablieren, dabei aber dennoch lediglich bei einer innerphilosophischen Erneuerung des Hegelianismus bleiben, ohne gegenstandsbezogene Untersuchungen in die Totalitätskonstruktion mit einzubeziehen. Und auch nicht nur gegenstandsbezogene Untersuchungen überhaupt mit einzubeziehen – dies tun Žižek, Comay, Ruda tatsächlich umfangreich und produktiv – sondern im Zuge einer systematischen Darstellung der Totalität.

Und umgekehrt, welche Rolle spielt es für die „neue Hegel-Lektüre“, dass Hegel aus den gegenstandsbezogenen Untersuchungen verschwunden ist? Die Frage ist, ob sie tatsächlich auf eine derartige Wiederetablierung Hegels für die gegenständlich-inhaltliche, fachwissenschaftliche Arbeit abzielt, oder nicht vielmehr auf eine erneute innerphilosophisch beschränkte Lektüre Hegels, die auch explizit beansprucht, als Philosophie Hegel neu zu lesen?

Vom Kopf auf die Füße

Aus meiner Sicht ist beides – der Verlust des Totalitätsanspruchs der philosophischen Hegel-Lektüre wie das Verschwinden Hegels aus den gegenstandsbezogenen Einzelwissenschaften – ein ebenso wissenschaftliches wie politisches Problem. Ich bin insofern völlig damit einverstanden zu sagen, dass wir eine neue Hegel-Lektüre brauchen. Wäre es aber nicht umgekehrt die sogenannte „französische Philosophie“ von Derrida, Foucault, Althusser, von der für so eine kritisch-gegenstandsbezogene Analyse mit guter Hegel-Lektüre sehr viel zu lernen wäre? Bei weitem nicht ausschließlich – ich würde mich für diese gegenstandsbezogene Hegel-Lektüre auch zum Beispiel auf Marx, Luxemburg, Horkheimer, wie auch auf Du Bois, de Beauvoir, Fanon berufen (um nur ein paar Namen zu nennen). Aber die Behauptung der „neuen Hegel-Lektüre“, dass „die“ französische Philosophie Hegel mit so harten Bandagen bekämpft habe, scheint mir durchaus ein Mythos zu sein, dessen Funktion (oder wahrscheinlich sogar strategisch kalkulierter Zweck) nicht zuletzt darin besteht, der eigenen Position in der akademischen Konkurrenz mehr Durchschlagkraft zu verleihen. Derrida, Foucault, Althusser, auch Lacan gehen gerade von einer sehr genauen Lektüre Hegels aus, wenn auch in scharfer und schärfster Kritik an ihm, aber diese Lektüre ist für ihre gegenstandsbezogene Analyse oft auch von erheblicher Relevanz.

Auch die Schüler:innen dieser „französischen Philosophen“ (etwa Étienne Balibar, Catherine Malabou, Judith Butler) verdammen Hegel nicht, sondern lehren ihn in ihren Seminaren und veröffentlichen höchst einschlägig zu ihm. Es gilt übrigens genauso für die Lehrer- und Vorgängergeneration – also etwa für Jean Hyppolite, Georges Bataille, Alexandre Kojève. Insofern muss man auch fragen, ob „die“ französische Philosophie dafür verantwortlich war, dass Hegel aus den Fachwissenschaften verdrängt wurde, und nicht vielmehr bestimmte allgemeine gesellschaftliche Veränderungen, im Zuge der Niederlage von 1968 und den postfordistisch-neoliberalen Umstrukturierungen des Kapitalismus.

So nötig wissenschaftlich und politisch eine neue Hegel-Lektüre ist, so fragwürdig ist das derzeit verbreitete Narrativ der Hegel-Renaissance, das durch ihre pauschale Wendung gegen „die“ französische Philosophie sogar einer falschen Richtung Vorschub leistet, da gerade Autoren wie Derrida, Foucault, Althusser und ihre Schüler – neben anderen – einiges zu bieten hätten. Wenn das Narrativ Erfolg hat, dann besteht die Gefahr einer bloß innerphilosophischen Ablösung des einen Hegelianismus durch einen anderen. Es käme vielmehr darauf an, keine bloß philosophische Relektüre Hegels anzustrengen, sondern eine kritisch-gegenstandsbezogene. Die wäre dagegen tatsächlich politisch an der Zeit: Es wäre dieser „vom Kopf auf die Füße gestellte“ Hegel, den wir für die nottuende Erneuerung der Welt bräuchten.