Wilhelm Heitmeyers „Signaturen der Bedrohung“: Eine dialektische Theorie der radikalen Rechten

Wilhelm Heitmeyer legt mit den zwei Bänden der Signaturen der Bedrohung[1] eine umfassende Theorie der gegenwärtigen radikalen Rechten vor. Es handelt sich dabei um eine kritisch-dialektische Theorie, weil sie die verschiedenen Aspekte und Ursachen der radikalen Rechten so miteinander in Beziehung setzt, dass sie anhand der Interdependenzen und Interaktionen dieser Aspekte und Ursachen die radikale Rechte in ihrer komplexen Gesamtheit darzustellen vermag.

Insofern sich Heitmeyer dafür auf zahlreiche Arbeiten der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung der letzten Jahrzehnte, stellt seine Theorie zugleich eine Synthese der bisherigen Forschungen dar. Dabei kann er auch auf seine eigenen theoretischen und empirischen Forschungen (im Rahmen der Langzeitstudie Deutsche Zustände) zurückgreifen. Sie ist Synthese unter anderem – und dies wäre durch andere synthetische Perspektive zu ergänzen – aufgrund ihrer Darstellung der radikalen Rechten als zusammenhängendes Eskalationskontinuum und aufgrund ihrer Verbindung unterschiedlicher Erklärungsansätze zu einer ‚synthetischen‘ Theorie:

So differenziert sie die radikale Rechte in fünf Schichten[2], die „rechtsradikale Bedrohungsallianzen“ und ein zusammenhängendes „Eskalationskontinuum“ bilden. Um die verschiedenen Schichten zu charakterisieren, führt sie zahlreiche vorliegende Untersuchungen zu den einzelnen Schichten zusammen. Diese Differenzierung der radikalen Rechten greift die etablierte Unterscheidung von Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus sowie deren Zwischenstufen auf. Der Blick auf die einzelnen Schichten muss dabei immer im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit und Wechselwirkung erfolgen. Partielle Analysen der einzelnen Schichten hätten zwar ihren Wert, aber „die Wucht rechter Bedrohungsallianzen wird erst im Eskalationskontinuum wirklich erkennbar.“ Die radikale Rechte muss insofern immer als ‚Ganzes‘ betrachtet werden, das allerdings erst durch die Interaktionen der einzelnen Schichten erkennbar wird.

Außerdem untersucht sie die Frage des rechtsradikalen Subjekts als subjektive Verarbeitung struktureller Krisenprozesse im ökonomischen, sozialen (eigentlich: ‚kulturellen‘) und politischen Bereich; sie bezieht sich, um die verschiedenen Verarbeitungsmechanismen zu beschreiben, wiederum auf zahlreiche vorliegende Untersuchungen. Beispielsweise legt Heitmeyer dar, dass die Zunahme ökonomischer Ungleichheit Abstiegsängste verursacht, die durch Abwertung nach unten und Diskriminierung etwa von Langzeitarbeitslosen kompensiert werden, oder dass Demokratieentleerung Unzufriedenheit mit den bestehenden politischen Parteien verursacht, die sich in „wutgetränkte Apathie“ umsetzt – eine wutgetränkte Wahlabstinenz, die sich jedoch schließlich auch in die Wahl rechtsradikaler Parteien umsetzen kann. Insbesondere tragen solche aus Krisen im ökonomischen und politischen Bereich herrührenden Gefühle und Einstellungen aber zur ‚sozialen‘ (kulturellen) Desintegration bei, das heißt zur Auflösung sozialer Integration im Sinne etwa von Solidarität, Kommunikation, Partizipation oder Zugehörigkeit. Auf der subjektiven Ebene geht es bei der sozialen Desintegration um Anerkennungs-, Identitäts- und Kontroll- und Identitätsverluste. Diese subjektive Desintegrationserfahrungen gehören „zu den zentralen Anknüpfungspunkten für autoritäre Rekrutierungen und Mobilisierungen“. Aus den sozialen Positionen und Anerkennungsverhältnissen heraus werden „schließlich politische Konsequenzen gezogen“. Diese These Heitmeyers lässt sich so nachvollziehen, dass die subjektive Verarbeitung von Krisen im ökonomischen und politischen Bereich zwar einzelne rechtsradikale Einstellungen befördert (in den Beispielen den Sozialchauvinismus und die Wut auf die bestehenden Parteien), aber nicht zu einem festgefügten autoritären Weltbild, also zu einer autoritären Subjektivität führt, aus der die grundsätzliche Konsequenz der politischen Verortung gezogen wird; es sei denn, diese Verarbeitungen im ökonomischen und politischen Bereich fließen in die soziale Desintegration mit ein.

Heitmeyers Ansatz zeichnet insgesamt aus, dass er sich stets gegen einseitige und monokausale Analysen wendet, und einzelne Teile und Aspekt nie isoliert, sondern immer in ihren Verhältnissen behandelt. Die in Signaturen der Bedrohung konzipierte Theorie ist eine kritisch-dialektische Theorie zu nennen, weil sie die radikale Rechte vermittels der Beziehungen ihrer Teile und Ursachenmomente als ein Gesamtphänomen darstellt, dabei aber die radikale Rechte auf das zugrundeliegende Ganze der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Krisen bezieht.


[1] Wilhelm Heitmeyer (2018): Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I, Frankfurt a. M., Suhrkamp; Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer (2020): Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II, Frankfurt a. M., Suhrkamp.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung, autoritärer Nationalradikalismus (etwa AfD, Pegida), systemfeindliches Milieu (etwa NPD/Heimat, Neonazi-Kameradschaften), terroristisches Planungs- und Unterstützungsmilieu, terroristische Vernichtungsakteure (etwa NSU).