Um den historischen deutschen Faschismus mit der deutschen Gegenwart zu vergleichen, muss man aus meiner Sicht folgende vier Fragen stellen:
1. Ist die AfD eine faschistische Partei, ist sie mit der NSDAP der 1920er Jahre vergleichbar?
2. Das gesellschaftliche Klima der 20er Jahre unterscheidet sich deutlich von dem der Gegenwart (z. B. breite Revolutionserfahrung, paramilitärische SA, explizit rechtsradikales Offizierskorps, Dysfunktion des Parlaments, Inflation), aber in welchen Aspekten ist es möglicherweise dennoch vergleichbar?
3. Es lag nicht nur an der NSDAP, dass die Gesellschaft faschistisch wurde, sondern weil die Faschisierung zum einen im Interesse einer Kapitalfraktion lag und zum anderen die Reproduktion der gefährdeten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen zu gewährleisten schien. In welchen Aspekten ist die Gegenwart mit diesen beiden ökonomischen Punkten vergleichbar?
4. Ist heute dominante ideologische Formation der radikalen Rechten – Empfindung von Kulturzerfall, Abendland, Kleinfamilie, Polemik gegen linksliberale Hegemonie usw. – faschistisch? Kann man sie vergleichen mit der Ideologie, die die NSDAP propagierte und die ihr zum Erfolg verhalf?
Man kann jetzt natürlich sagen: Vielleicht ist die NSDAP wirklich viel krasser als die AfD, aber man müsse eben den Vergleich mit z. B. dem italienischen oder spanischen Faschismus suchen, und da werde sich dann zeigen, dass die AfD wirklich faschistisch ist.
Aber eigentlich entzieht sich mir zunehmend das Verständnis für die Frage, ob die aktuellen Akteure faschistisch sind, und was aus seiner Beantwortung praktisch folgt. Wenn die AfD nicht faschistisch ist, hieße das, dass man nicht mehr so stark dagegen aktiv ist? Wenn man zu dem Schluss kommt, dass im Augenblick keine Faschisierung in Deutschland droht, hieße das, dass man sich aktivistisch ein bisschen zurücknehmen kann?
Ich denke mittlerweile, dass der Vergleich der Gegenwart mit dem historischen Faschismus nicht mehr den Sinn hat nachzuweisen, dass die AfD, Pegida, die Neue Rechte, die Identitären, die Corona-Leugner „wirklich faschistisch“ sind (immerhin sagen sie von sich, nicht faschistisch zu sein, deswegen ist die Frage ja in der politischen Auseinandersetzung so wichtig). Denn Faschismus ist einfach ein sehr komplexes Phänomen und es unterscheiden sich auch die gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart ganz grundsätzlich von den 1920er Jahren. Man wird aus meiner Sicht in einem präzisen und differenzierten Vergleich nie zu dem Schluss kommen können, dass sich heute ein Kern „des Faschistischen“ vorbereitet, der identisch ist mit dem, der in der NSDAP steckte, und der mehr oder weniger zwangsläufig die Konsequenzen von Konzentrationslagern, Vernichtungskrieg und Massenmord haben wird. Zwar wird diese These von vielen heute vertreten, es ist allerdings einfach ein liberaler, demokratischer Antifaschismus (wird aber genauso von vielen aus der Antifa-Szene sowie einem diffusen und breiten antideutschen/postantideutschen Milieu vertreten). Der „Kern des Faschistischen“ wird hier lediglich psychologisch-ideologisch definiert und besteht ungefähr aus autoritärem Charakter, Populismus, völkischem Denken und Antisemitismus.
Aus meiner Sicht macht der Vergleich nur so Sinn, dass man durch präzises und differenziertes Studium der damaligen Ereignisse, Bedingungen und Verläufe die Gegenwart vor diesem Hintergrund reflektieren kann. Die Frage ist dann nicht mehr: Kann man die Gegenwart unter „drohendem Faschismus“ subsumieren? Sondern es geht eher darum, durch die Analyse einzelner Elemente Aufschluss für die Gegenwart zu gewinnen, zum Beispiel der folgenden Elemente: die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen für „rechtsradikale“ Subjektivität; worin „rechtsradikale“ Subjektivität eigentlich genau besteht; der Zusammenhang von Kapitalismus, Krise und Rechtsruck/Faschismus; das taktische Verhältnis der NSDAP zu ihrer Propaganda; die rücksichtslos taktische Ausreizung politischer Mechanismen, um an die Macht zu kommen.
Aus meiner Sicht macht die Frage nach „dem Faschistischen“ nur so herum Sinn, dass man auf einer grundsätzlichen Ebene bürgerlich-kapitalistischer Formen nach der Struktur und den Bedingungen ihrer Faschisierung fragt, d. h. etwa in Bezug auf die Form des Staats (Verselbständigung/“Gleichschaltung“/Repression), der Ideologie (unendliche Schuld des Individuums gegenüber der Nation), der Ökonomie (Zwangsarbeit, systematischer Raub, extremer schuldenfinanzierter Staatsinterventionismus), des Subjekts (restlos, todesverachtender Einsatz).
Also die Frage nach „dem Faschistischen“ als „Prinzip“ macht nur Sinn, wenn man auf einer grundsätzlichen, gesellschaftstheoretischen, formanalytischen Frage danach fragt. Aber dies ist dann eigentlich kein „Prinzip“ als ein „Kern“, der in den Phänomenen wirksam ist, sondern es ist ein bestimmter Prozess, der an den diversen bürgerlich-kapitalistischen Formen vorgeht (Staat, Ideologie, Ökonomie, …), ohne dass diese einen abstrakte gemeinsame Ursache haben, und ohne dass in jeder Sphäre dieser Prozess in derselben Geschwindigkeit und Intensität stattfinden muss.
In der Perspektive eines solchen reflektieren Vergleichs mache ich bisher zwei Beobachtungen, die mir auch praktisch bedeutsam zu sein scheinen:
1. Die AfD ebenso wie die heute dominante ideologische Formation der radikalen Rechten sind nicht faschistisch, sondern autoritär-populistisch. Allerdings gibt es einerseits faschistische Kader und Netzwerke in der AfD, andererseits unabhängige und informelle faschistische Organisierungen (Rechtsterrorismus, faschistische Netzwerke in der Polizei), und beides funktioniert tatsächlich als ein zusammenhängendes Milieu.
2. Die NSDAP war faschistisch, hatte sich aber für ihre Mobilisierung zu großen Teilen nicht faschistischer, sondern autoritär-populistischer Propaganda bedient (z. B. für Selbstbestimmung Deutschlands, für den Frieden, Volksgemeinschaft, Überwindung der Klassengegensätze), und damit meiner Meinung nach auch ihre großen Wahlerfolge gehabt; und auch die nationale Massenbegeisterung des Jahres 1933 war autoritärer Populismus.