Kapitalismus und Natur

Es gibt in den Naturwissenschaften einige sehr deutliche Phänomene, denen es „auf der Stirn geschrieben steht“, dass sie aus der kapitalistischen Gesellschaft kommen: das survival of the fittest, die Objektivierung/Abstraktifizierung des menschlichen Körpers in der Medizin oder die Objektivierung der „Umwelt“ im Gegensatz zum Menschen. Das Interessante ist hierbei, dass in der Naturwissenschaft diese Objekte als „empirisch messbar“ erscheinen, d. h. man kann gemäß der Naturwissenschaft das survival of the fittest „empirisch beweisen“.

Im Verhältnis von Physik und Philosophie ist deutlich sichtbar, dass die Physik die inhaltliche Konstruktion ihrer Begriffe und ergo Gegenstände „empirisch beweisen“ kann, wohingegen die Philosophie hierzu nichts beitragen kann. Die Philosophie der Natur sowie der Naturwissenschaft, die heute existiert, beginnt immer ganz grundsätzlich mit der Selbstentwertung, keinen inhaltlichen Beitrag zu den Begriffen der Naturwissenschaft leisten zu wollen – unter der Strafe des „Spekulationsverdachts“.

Eine gesellschaftstheoretische Kritik dieser „Objekte in der Natur“ hat es damit schon ziemlich schwer, weil diese Objekte als völlig unmittelbar und selbstverständlich in ihrer Bestimmtheit gelten (Umwelt usw.). Ich würde halt sagen, sie sind gesellschaftlich konstituiert. Aber wie geht das? Wie kann ein natürliches Objekt an ihm selbst gesellschaftlich konstituiert sein? Also: Wie kann so etwas wie das Corona-Virus mit seiner „objektiven“ Infektionsgesetzlichkeit – oder auch die Gravitation mit ihren Gesetzen der allgemeinen Relativität gesellschaftlich konstituiert sein? Und wie kann man hier eine gesellschaftstheoretische Kritik entwickeln, ohne die zweifellosen Fortschritte der bürgerlichen Naturwissenschaft einfach auszublenden und wegzuwerfen?

Die Antwort ist, wie ich denke, sehr einfach: Es gibt für uns keine Natur an sich, sondern es gibt für uns Natur immer nur innerhalb des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Natur, d. h. es gibt nur gesellschaftliche Naturverhältnisse. Diese sind wiederum nicht nur „aktiv“, sondern beinhalten auch die Wahrnehmung der Natur, so wie oben dargestellt. In diese Wahrnehmung gehen dann auch die ganzen bürgerlichen Denkformen ein (z. B. Konkurrenz, Mechanik, Isolation statt Zusammenhang). Was das dann konkret wirklich heißt, das ist dann das „Schwere“. Es ist glaube ich klar, dass diese Naturverhältnisse nicht in simplen Individuum-Ding-Verhältnissen bestehen, sondern in komplex verschlungenen Verhältnissen von Wissenschaft, Produktivkräften, Konsumtionen, Kulturalisierung von Natur und Naturalisierung von Kultur, Selbstverhältnissen zu den eigenen Körpern, Ernährungspraktiken, Medizin-Staat-Wirtschaft-Komplex usw.

Meine Erfahrung im Physik-Studium war, dass gerade bei den „state of the art“ Theorien eigentlich völlig unklar ist, was das bedeutet: Es ist unklar, was das Verhältnis von Zeit und Raum nach der Relativitätstheorie sein soll – es gibt lediglich die Formeln, die sehr gut funktionieren und ohne die Raumfahrt nicht möglich wäre. Aber niemand versteht sie. Es ist auch unklar, was die Identität von Welle und Teilchen eigentlich heißen soll, obwohl – ebenfalls – ohne diese Formeln kein Computer existieren würde. Das Interessante hierbei ist, dass es sich offensichtlich um dialektische Figuren handelt. Kommen hier also Naturphänomene zum Vorschein, die sich mit dem herkömmlichen naturwissenschaftlichen Denken nicht mehr denken lassen und so konsequent „in der empirischen Messung“ als dialektische, also kontradiktorische Phänomene erscheinen? Was wäre dann eine marxistische Relativitätstheorie? Und als vielleicht nicht unwesentliche side note: Hat Einstein, der erklärtermaßen Sozialist war, ein „marxistisches“ Verständnis der Natur besessen und darum die Relativitätstheorie formulieren können?

Ich finde es schon auffällig, dass sich das heutige kritische Denken so völlig von der Naturwissenschaft entfremdet hat, selbst da wo es sich materialistisch nennt, nimmt es die bürgerlichen Konstruktionen wie das survival of the fittest oder die Schulmedizin als völlig evident und verteidigt sie auch vehement gegen „Irrationalismen“. Vielleicht kommt ja gerade mit der Klimabewegung und mit dem Corona-Virus so ein bisschen ein Wandel auf, möglicherweise. All diese Fragen waren früher viel viel diskutiert, siehe zum Beispiel Sohn-Rethel oder die frühe Sowjetunion. Heute gibt es nur einzelne Ausnahmen wie John Bellamy Foster, und jedenfalls nicht im deutschsprachigen Marxismus. Man sollte sich mal überlegen, woher diese „Entmaterialisierung“ der marxistischen Theorie ungefähr um 1950 herrührt.

Hier nun noch ein Ausschnitt aus dem Artikel „Quantenphysik und Marxismus“ (https://www.linksnet.de/artikel/24102), der mich zu diesem Text inspiriert hat.

III. Quantenphysik und Marxismus  

Versucht man auf der Suche nach Klarheit auf die Beiträge von MarxistInnen zurückzugreifen, erlebt man eine weitere Enttäuschung: die Suche nach einer aus marxistischer Sicht – oder wenigstens unter angemessener Berücksichtigung marxistischer Beiträge – verfassten populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Quantenphysik bleibt ohne Ergebnis; es gibt schlicht nichts derartiges, jedenfalls nicht in deutscher Sprache. Dabei bemerkt der marxistisch angehauchte Leser schon bald, dass es auffallende Parallelen zu geben scheint zwischen bestimmten Formulierungen und Denkweisen der Quantentheorie und dem, was wir über Dialektik und über Materialismus gelernt haben. Es drängt sich zum Beispiel der Eindruck geradezu auf, dass das weiter oben bereits erwähnte Komplementaritätsprinzip deutliche Parallelen aufzeigt zu dem, was MarxistInnen unter Dialektik verstehen: Gewinnung neuer Erkenntnis aus dem Zusammendenken von Widersprüchen, „die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst“ (Lenin S. 99). Auch scheinen nicht wenige Beiträge – zumindest streckenweise – geradezu durchtränkt vom dialektischen Verständnis ihres Gegenstandes und von jenem spontanen Materialismus, dem sich Physiker naturgemäß nur schwer entziehen können, sodass Heisenberg einmal bemerkte: „Die Natur offenbart uns immer mehr ihren dialektischen Charakter, gerade im Bereich der Elementarteilchen. Aber die meisten Menschen können die Dialektik nicht vertragen – auch die Regierenden können das nicht. Dialektik schafft Unruhe und Unordnung. Die Menschen wollen eindeutige und konfektionierte Ansichten zur Verfügung haben.“ (nach Havemann S. 51)

Nun hat das Verhältnis zwischen der Quantenphysik – den modernen Naturwissenschaften allgemein – und dem Marxismus eine eigene, lange und äußerst turbulente Geschichte, deren Darstellung dicke Bände füllen würde und wo Marxisten nicht immer nur eine positive Rolle gespielt haben. Da waren auf der einen Seite Phasen großer – manchmal geradezu stürmischer – Erfolge zu verzeichnen, etwa in der Sowjetunion bis weit in die dreißiger Jahre hinein, und später in der DDR eine auf hohem wissenschaftlichen Niveau geführte Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen der Naturwissenschaft – speziell der Physik und Quantenmechanik. Es gab aber auch Phasen der geballten militanten Inkompetenz und Intoleranz, die hinreichend Stoff bieten würden für so manche Kommödie oder Farce – und leider auch für so manche Tragödie. Schließlich ging und geht es ja nicht ’nur‘ um Physik sondern immer auch um Weltbilder und Weltanschauungen und da haben Eigenschaften wie Sachkompetenz, Klugheit, Besonnenheit, Nüchternheit nicht selten das Nachsehen gehabt gegenüber Linkem Radikalismus und „revolutionärem WauWauspielen“ (Bloch). Heute liegen die Dinge wiederum anders, droht unter MarxistInnen eher Desinteresse und – im Ergebnis – Unkenntnis hinsichtlich der modernen Physik um sich zu greifen. 

Vom Klassengegner wurde und wird gerade die Quantenphysik und ihre philosophischen, vor allem ihre erkenntnistheoretischen Implikationen – neben der Chaos-Theorie, der Evolutionsbiologie und der Hirnforschung – gerne benutzt, um Angriffe gegen den dialektischen Materialismus zu führen. (Dies sicher auch wegen der weitgehend akzeptierten wissenschaftstheoretischen Vorbildfunktion der Physik.) Insbesondere dienen dazu die Behauptungen, die Quantenphysik sei ein Beleg dafür, 
a) dass in der Welt der Elementarteilchen das fundamentale Prinzip der Kausalität nicht mehr gelte, dass es dort stattdessen irgendwie mystisch und undurchschaubar zugehe und  
b) dass die Vorstellung von der Welt als einer an sich und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein real existierenden nicht mehr aufrecht zu halten sei 
– Behauptungen, die, wären sie zutreffend, die dialektisch-materialistische Grundposition von der Erkennbarkeit der Welt im Kern erschüttern würden. 

Der Diskussionszusammenhang um die Quantenphysik trägt daher hochpolitischen Charakter, auch wenn das nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar sein mag. Dieser Frontabschnitt des ideologischen Klassenkampfes war daher nicht zufällig schon immer hart umkämpft und wird es noch lange bleiben. Heute ist dabei mehr denn je nicht die offene Auseinandersetzung angesagt, sondern die Methode des Verschweigens und der Denkverbote. Es ist bürgerlichen Physikern und Philosophen offensichtlich heute in aller Regel nicht gestattet, den dialektischen Materialismus auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu Rate zu ziehen oder gar sich offen darauf zu berufen. Anstatt sich im offenen Disput mit seinen Vertretern auseinander zu setzen, greifen sie in verdeckter Form seine Kernbestandteile an, unter Ausnutzung der von der interessierten Öffentlichkeit – und von ihnen selbst – oft nicht ernst genommenen erkenntnistheoretischen Zusammenhänge dieses Sachgebietes. Mystifizierung, Chaotisierung, das kaleidoskopartige Spiel mit schillernden Begriffen und Analogien sind die am häufigsten anzutreffenden Methoden – ‚anything goes‘, die Postmoderne läßt grüßen. Die Wirkung ist beträchtlich, vor allem wenn bürgerliche Ideologen unter Mißbrauch ihrer Autorität und ihres öffentlichen Renommees als Physiker die erkenntnistheoretischen Implikationen der Physik vernachlässigen, was durchaus nicht immer als bewußter und gezielter individueller Akt zu geschehen braucht, oft eher das Ergebnis von Wissenschaftspolitik denn von Wissenschaft ist. Umso wichtiger ist es, diesen Vorstößen mit der Strenge der dialektisch-materialistischen Analyse der erkenntnistheoretischen Aspekte der Naturwissenschaften – speziell der Quantentheorie – zu begegnen. Dieser Aufgabe hat man sich gerade auch in der DDR intensiv gewidmet und die Ergebnisse sind weiterhin leicht zugänglich (M. Buhr, H. Hörz, U. Röseberg u.a.). In den Jahren nach 1989 ist die Arbeit mit umfassenden Untersuchungen (Wahsner 1989 – 2006) weiter vorangetrieben worden, an die ich mich im folgenden weitgehend anlehne.