Wie können die heutigen Arbeitsverhältnisse, die zu lange nicht mehr gekannter Verelendung und Entfremdung führen, angemessen und zielführend kritisiert werden? Wie können die Kämpfe um Veränderung geführt werden?
Diesen Fragen stellte sich Axel Honneth in seiner Vorlesung „Der arbeitende Souverän. Eine demokratische Theorie der Arbeitsteilung“, der damit in diesem Jahr die Walter-Benjamin-Lectures übernahm. Die sehr gut besuchte Vortragsreihe unter freiem Himmel im Freiluftkino Hasenheide war zweifellos einer der zentralen Events des sich für Kritische Theorie und Sozialismus interessierenden akademischen Publikums. Honneth verfolgte darin in hochspannenden Analysen eine philosophische Perspektive, die sich sensibel den Lebensverhältnissen der Arbeitenden zuwendet und deren Stoßrichtung von hoher politischer Wichtigkeit ist.
Honneth nötigt mich, eben weil seine Vorträge so lehrreich und inspirierend waren, – und auch weil er zu den wichtigsten Philosophen der Gegenwart gehört, zum Widerspruch. Im Folgenden versuche ich daher herauszufinden, wie seinen Ausführungen argumentativ entgegnet werden kann.
1. Nichtdualistische Kritik
Zu Beginn seiner Vorlesungen führte Honneth in sein Verständnis von Kritik ein und damit in den Aufbau seiner Vorlesungen ein. Einerseits sei das Ideal von Arbeit zu umreißen, andererseits empirisch die Wirklichkeit der Arbeit, die anhand des Ideals kritisiert werden kann. Der Kampf für die Arbeit bestehe schließlich darin, die Wirklichkeit dem Ideal anzunähern. Davon ausgehend machte Honneth drei Paradigmen der Kritik von Arbeit aus, wie sie sich seit dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt haben und die vom Frühsozialismus bzw. von Hegel ausgehen. Die Ideale dieser Paradigmen sind erstens die individuelle Selbstverwirklichung im Arbeitsprodukt statt Entfremdung, zweitens Arbeit als Kooperation statt als Konkurrenz und Vereinzelung und drittens Arbeit als Befähigung zur politischen Partizipation an der demokratischen Willensbildung.
Honneth übergeht damit allerdings ein viertes Paradigma der Kritik. In einer Randnotiz bemerkte er zwar, dass es noch ein weiteres Paradigma der Kritik gibt, auf das einzugehen den Rahmen seiner Vorlesungen jedoch sprengen würde. Er führte nichts näher dazu aus. In jedem Fall übergeht Honneth allerdings dasjenige Kritik-Paradigma, den Marx in einem Hauptwerk Kapital praktiziert. Es findet sich aber auch schon in den Pariser Manuskripten, auf die Honneth sich in seinen Vorlesungen ausführlich bezogen hat, und der historisch als Kritik-Paradigma durchaus einflussreicher Strömungen des Marxismus und der Arbeiterbewegung zu beschreiben wäre. Insofern es Honneth um einen Überblick über die historische und aktuelle Kritik-Paradigmen zu tun war, wurde er also seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Es handelt sich um die „Kritik als Darstellung“, eine Diskussion, die auch unter dem Stichwort „Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert“ bekannt ist. Dieses vierte Kritik-Paradigma kritisiert die Wirklichkeit nicht aufgrund eines Maßstabs, sondern stellt die Entfremdung als einen Widerspruch und eine Trennung innerhalb der Wirklichkeit selbst dar. Entsprechend stellt es Ideal und Empirie der Arbeit nicht getrennt dar, wie Honneth dies an zwei Abenden tat, sondern arbeitet die Entfremdung in der Darstellung der Wirklichkeit selbst heraus.
Dieses nichtdualistische Paradigma wird an Marx‘ Kritik der entfremdeten Arbeit in den Pariser Manuskripten sehr deutlich, die von Honneth als Kritik anhand des Ideals der individuellen Selbstverwirklichung interpretiert wird. Marx zufolge setzt Arbeit individuelle „Wesenskräfte“ (Geist, Sinnlichkeit, Leib …) in die Wirklichkeit um, was zu einer Bestätigung des Individuums führt. Unter den kapitalistischen Bedingungen der Aneignung fremder Arbeit sind diese Umsetzung und diese Bestätigung jedoch dem Individuum zugleich verwehrt. In diesem Paradigma ist dabei diese Umsetzung nicht einfach außer Kraft gesetzt, sondern sie vollzieht sich und ist zugleich blockiert. Beides besteht gleichzeitig: Die Aneignung fremder Arbeit ist nur möglich, wenn gearbeitet wurde und das Individuum sein individuelles Vermögen in den Gegenstand gelegt hat. Dies findet selbst bei den mechanischsten und depraviertesten Tätigkeiten statt, in denen immer noch ein Individuum mit seinem Willen und seinem Bewusstsein über seine Tätigkeit und sein Ziel zugegen ist. Dieses Paradigma der Kritik misst die Wirklichkeit also nicht an einem Ideal, vielmehr würde es dieses selbst auf eine Vereinseitigung des Widerspruchs zurückführen: Das Ideal der vollständigen Verwirklichung eines Selbst-Kerns im Produkt entsteht, indem die eine Seite des Widerspruchs abgetrennt wird und zu einer abstrakten und reinen Figur idealisiert wird. In der Folge kann dieses Ideal auch subjektivierende und repressive Züge entwickeln.
2. Der Sozialismus und die Überwindung des Kapitalismus
Honneth findet deutliche Worte für das Elend in der heutigen Arbeitswelt, das er empirisch genau und sensibel beschreibt, und tritt für einen Kampf für die Verbesserung dieser Arbeitsbedingungen um willen der Menschen ein. Dabei betont er, dass es um deren Leben und Wohl hier und jetzt gehen müsse, und nicht um die langfristige Perspektive der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Zwar versteht sich Honneth als Sozialist, hält aber die Verwirklichung des Sozialismus für ein so langfristiges Projekt, für so weit entfernt, dass er es in Anbetracht des Elends der Gegenwart nicht für sinnvoll hält, theoretisch darauf einzugehen und die politische Bewegung daran auszurichten.
Die Arbeitsverhältnisse hier und jetzt werden sich jedoch nicht verbessern, solange nicht mit diesem Kampf um die Gegenwart zugleich der Sozialismus angestrebt wird. Dass Honneth das eine ohne das andere für erfolgversprechend hält, liegt wohl daran, dass er sich den Kampf um die Arbeit als demokratischen Prozess, basierend auf dem vernünftigen Austausch von Argumenten, vorzustellen scheint. Tatsächlich ist die politische Sphäre selbst antagonistisch strukturiert. Sie ist von Interessensgegensätzen durchzogen, die den argumentativen Austausch nur partiell ermöglichen oder ganz blockieren, und die ihren Ursprung in der Sphäre der Ökonomie selbst haben, von der Honneth die Sphäre der Politik – zumindest in diesen Vorlesungen – als ideale Sphäre abtrennt.
Natürlich ist eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse derzeit nicht in Sichtweite. Es muss heute allem voran um die Veränderung im Hier und Jetzt gehen. Dennoch wird dies nur gelingen, wenn sich der Kampf um die Gegenwart zugleich auf Sozialismus bezieht. Die soziale Bewegung muss im Bewusstsein der kapitalistischen Bedingungen und ihrer antagonistischen Interessensgegensätze kämpfen, um im politischen Prozess effektiv agieren zu können. Dabei ist dieses kapitalismuskritische Bewusstsein ist nicht trennbar vom praktischen Anstreben nichtkapitalistischer Verhältnisse. Dieser Kampf für den Sozialismus verleiht den sozialen Bewegungen andererseits denjenigen Charakter einer Bedrohung des Bestehenden, der nötig ist, um die entgegenstehenden Seiten der Interessensgegensätze zu Zugeständnissen im Hier und Jetzt zu zwingen.
In der Geschichte der sozialen Kämpfe waren es fast immer die radikalen Forderungen, die eine Reform im Hier und Jetzt möglich gemacht haben: Man denke nur an Bismarcks Reaktion auf die revolutionäre Sozialdemokratie in der Einführung des Sozialstaats, oder, in der Folge der Novemberrevolution 1918, die Entmachtung der Monarchie und die Durchsetzung einer demokratischen Verfassung. Im Hier und Jetzt trägt die Mietenbewegung gerade dadurch Früchte, dass sie eine grundsätzliche Alternative zu kapitalistischem Wohnungseigentum in den Raum stellt, nämlich breit aufgestelltes kommunales Wohnungseigentum. Eben weil sich in der Enteignungsforderung zurzeit sehr viele Menschen wiederfinden können, die ihre untragbaren Wohnungsverhältnisse im Hier und Jetzt verbessern wollen, zwingt die Mietenbewegung die Regierungen und die Wohnungskonzerne zum Gegensteuern. Doch ein solcherweise im Hier und Jetzt geführten Kampf rückt schließlich zugleich die langfristige Perspektive ins Zentrum, die daher gerade nicht – wie Honneth dies tut – von der Reform abgeschnitten werden kann: die Überwindung des Kapitalismus und die Verwirklichung des Sozialismus.
3. Die gute Arbeit und der Feminismus
Am zweiten Abend entwickelte Honneth einen intensiv reflektierten und sehr präzisen Begriff der gesellschaftlichen Arbeit, eine Definition, um in der Empirie Arbeit von anderen Tätigkeiten abzugrenzen. Arbeit ist nach Honneth unter anderem (im Hinblick auf meine folgende Ausführung verkürze ich die Definition etwas) – eine Tätigkeit, die die Bedingungen des sozialen Lebens erhält und dem Wohl der Gesellschaft dient. Arbeit ist damit für Honneth grundsätzlich ein Gut – und zwar Arbeit in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit.
Das wurde aber nicht zuletzt durch den Feminismus infrage gestellt. Denn mit dieser Definition folgt Honneth dem herrschenden Konzept von Arbeit, das diese auf gesellschaftliche Nützlichkeit reduziert, darin von anderen menschlichen Vermögen wie Freizeit oder Liebe abtrennt und dem Individuum seine bürgerliche Anerkennung durch seinen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft zukommen lässt. Feministische Autorinnen haben dieses Konzept von Arbeit als sexistischen Produktivismus kritisiert. Denn für Care-Arbeit kann oft nur schwer eine Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit gezogen werden, weil Dinge wie Pflege, Kindererziehung, Liebe für den Partner, Sorge für eine heimelige Hausatmosphäre nie bloß nützliche Arbeit sind. Die hier gerade nicht mögliche Trennung von Arbeit und Freizeit, an der Honneth festhält, macht unter anderem die feministische Kritik und den feministischen Kampf so widersprüchlich und alles andere als straight forward. Auf diese Argumente ging Honneth nur am Rande ein, wobei er keine feministische Autorin namentlich erwähnte – im Gegensatz zur durchgehenden Nennung von Hegel, Marx, Durkheim, Smith und anderen Männern. Er hätte sich etwa auf Mariarosa Dalla Costa, Gisela Bock, Barbara Duden, Silvia Federica oder Felicitas Reuschling beziehen können.
Die Kritik der Arbeit kann daher nicht dabei stehenbleiben, die heutigen Arbeitsverhältnisse anhand eines Ideals zu kritisieren, sondern muss sich auch gegen die Reduktion der Arbeit auf den Nutzen wenden. Arbeit ist genau genommen nicht zu trennen von in sich sinnhaften Tätigkeiten, die im weitesten als kulturelle und selbstzweckhafte zu bezeichnen sind, wie zum Beispiel Care-Beziehungen, kreativ-künstlerische Tätigkeit oder auch Gesellschaftskritik. Der Kampf um die Arbeit muss daher auch die Aufhebung dieser Trennung von Nutzen und Sinn beinhalten – eine Idee, die unter anderem Marx in den Pariser Manuskripten formuliert hat.
Honneths Beharren bürgerlichen Arbeitskonzept zeigt sich nicht zuletzt in seiner ausweichenden Antwort auf den Vorschlag der Kommentatorin Andrea Komlosy, Arbeits- und Privatsphäre dadurch zu verbinden, dass das sonst zuhause stattfindende Kochen in den Betrieben organisiert wird: Ihm fehle die Phantasie dafür, sich das vorzustellen. Es ist dann nur folgerichtig, wenn Honneth den Kampf um die Arbeit – wie Komlosy ebenfalls hervorhebt – nur hinsichtlich erwerbsförmiger Arbeit diskutierte, obwohl er zuvor Hausarbeit in der Definition von Arbeit explizit miteingeschlossen hatte. Ebenso wenig thematisiert er das Ineinandergreifen unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse, aufgrund dessen der feministische Kampf oft nicht vom Kampf um die Arbeit zu trennen ist. Eben dieses Übergreifen kennzeichnet doch viele der sichtbaren und starken Kämpfe der letzten Jahre, sei es in den Krankenhäusern und Kindergärten, sei es des Frauenstreiks, sei es spezifischer Forderungen für Frauen in allgemeinen Arbeitskämpfen.
Honneth sieht schließlich sogar den wichtigsten Grund für die gegenwärtig schlechten Aussichten in dem herausgehobenen Stellenwert der identitätspolitischen Kämpfe um – so Honneth – „gender“. Das ist sicherlich richtig, in dieser Form jedoch einseitig. Die Identitätspolitik der letzten Jahre reagiert auch auf die lange Dominanz der klassenpolitischen Kämpfe dar, die aufgrund ihrer Orientierung am bürgerlichen Arbeitskonzept feministische oder antirassistische Kämpfe oft als unnötiges, ablenkendes oder bloß partikulares Thema entwertet haben. Klassen- und Identitätspolitik sollte nicht polemisch entgegensetzt werden, sondern diese Entgegensetzung wäre als Konsequenz der kapitalistischen Verfasstheit von Arbeit selbst aufzuzeigen. Arbeit und Liebe, Arbeit und Freizeit, Nutzen und Sinn könnten so als zusammenhängende Aspekte thematisiert werden und Bedingungen für die Aufhebung ihrer Entgegensetzung angegeben werden.
4. Die Politik des langen Atems
Warum kamen die Arbeitenden selbst, die Subjekte des Kampfes um die Arbeit, nicht vor, als Honneth sich am letzten Abend den „Kampf um die gesellschaftliche Arbeit“ (so der Vorlesungstitel) beschäftigte? Diese Frage stellten sich in den Diskussionen am Abend nach der Veranstaltung, an denen ich teilnahm, viele. Honneth entwickelt zwar einen Ansatz für eine politische Strategie, indem er zwei Hebel analysierte, mit denen die Arbeitsverhältnisse verändert werden könnten. Allerdings ging er nicht darauf ein, wie die Arbeitenden innerhalb der gegenwärtigen Bedingungen zielführende Kämpfe führen könnten, noch erwähnte er aktuelle Kämpfe. Davon gab es in den letzten Jahren ja doch vielversprechende: die gilets jaunes, der Streik an der Charité oder die Kämpfe der amazon-Belegschaften, um nur drei weithin sichtbare zu nennen.
Konkret wurde Honneth jedoch durchaus, was die Subjektposition von Politiker*innen und Intellektuellen betrifft. In einer Zeit, in der viele Errungenschaften früherer Kämpfe zerstört seien, in denen man im Aufbau von Strukturen noch einmal ganz unten anfangen müsse, dürfe man sich angesichts der düsteren Perspektiven für die heutigen Kämpfe nicht frustrieren lassen. Um sich gegen die Bedrohung der Resignation zu wappnen, schlug Honneth eine Politik des langen Atems vor. Kämpfe und Verbesserungen im Hier und Jetzt hält nicht für unmöglich, sieht aber auch nicht viel Potential dafür. Diese Schwierigkeiten sind zwar evident. Auf sie wäre aber nicht mit einer antiresignativen Subjektposition der Geduld zu reagieren, sondern mit einer Analyse der in diesen Schwierigkeiten dennoch vorhandenen strategischen Perspektiven für die Arbeitenden.
Dieser pessimistische Schluss stellte nun jedoch auch das zuvor Entwickelte infrage: Wenn es keine wirklichen Aussichten für Kämpfe gibt, welchen Sinn hatte dann Honneths philosophische Analyse? Nach meinem Eindruck kommt Honneth zu diesem unentschiedenen Resultat, weil er sich an der gut verankerten Arbeiterbewegung des Fordismus orientiert. Weil es diese nicht mehr gibt, hat auch die von Honneth dargelegte Kritik der Arbeit kaum mehr eine Entsprechung in der Praxis. Es gibt keine objektive Dynamik mehr, die die Verwirklichung von Honneths Ideal real verbürgen könnte.
Diese Entkopplung von Theorie und Praxis dürfte auch die Ursache dafür sein, dass Honneth am Ende des dritten Abends wiederholt betont, dass ihm die Phantasie fehlt, sich sozialistische Alternativen zum Kapitalismus vorzustellen. Doch was soll man dazu sagen? Dass wir diese Phantasie schon haben? Eine solche „revolutionäre Phantasie“ – wie sie etwa bei Marx, Bloch, Marcuse oder Krahl Thema war – ist auch heute möglich, nämlich dort, wo Theorie und Praxis in konkrete Vermittlungen treten. Dafür sind jedoch andere Positionen als die von Honneth vertretenen nötig: Eine nichtdualistische Kritik, eine sozialistische Realpolitik und die Verbindung von Identitäts- und Klassenpolitik. Einer solchen Theorie dürfte es leichtfallen, ihr entsprechende Praxis – in all ihrer Schwierigkeit – zu erkennen. Sollte ihre Vermittlung organisatorisch gelingen, wird die revolutionäre Phantasie fast wie von selbst wieder aufblühen.