„Neue linke Erzählung“?

In letzter Zeit stolpere ich ziemlich oft darüber, dass bestimmte Teile der (radikalen) Linken die bürgerlichen Ideale Freiheit, Gleichheit, Solidarität hochhalten.

Sebastian Friedrich hat ein Buch herausgegeben mit dem Titel „Neue Klassenpolitik“. Er schreibt darin:

„Die Koordinaten linker Politik sind Gleichheit und Freiheit. Gleichheit im ökonomischen Sinne als gleiche Teilhabe aller am Reichtum einer Gesellschaft, Freiheit im Sinne der freien Entfaltung, und beide gedacht als sich wechselseitig bedingend.“ (https://www.neues-deutschland.de/…/1104663.linke-gesellscha…)

Bini Adamczak hat das Buch „Beziehungsweise Revolution“ veröffentlicht, in der sie auf die Trias Freiheit, Gleichheit, und dann vor allem Solidarität abzielt.

Ich habe in den letzten ein, zwei Jahren immer wieder Gespräche mit Linksradikalen geführt, die die Orientierung an diesen Idealen für zentral erachten: Diese Ideale seien das, worum es uns (?) mit unserer linken Politik geht.

Es ist natürlich klar, dass Sebastian und Bini in gewissem Sinn „das Richtige“ wollen. Aber mich wundert, wie beide ganz selbstverständlich und ohne weitere Begründung Gleichheit, Freiheit und Solidarität als Zielpunkte setzen.

Ich bin aber im Augenblick etwas ratlos, wie man hier politisch so dagegen argumentieren kann, dass die Kritik verstanden wird und „trifft“.

Meine erste Reaktion ist immer zu sagen, dass das genau die Ideale sind, die aus der Struktur der kapitalistischen Ökonomie hervorgehen – Tausch von Äquivalenten, Freiheit des warentauschenden Bürgers, Solidarität in der Gegenseitigkeit des Tauschs; dass es kein Zufall ist, dass gerade DIE klassische bürgerliche Revolution, nämlich die Französische, diese Trias zu ihrem Schlachtruf erhoben hat; dass die Einforderung dieser Trias von links immer nur wieder den Kapitalismus hervorbringt und deswegen gerade nicht antikapitalistisch ist; und dass Marx ja ganz groß beim Übergang von der Zirkulationssphäre zur Produktionssphäre geschrieben hat, dass wir jetzt das „Reich von Freiheit, Gleichheit und Bentham“ verlassen.

Aber dieses Argument zieht irgendwie nicht, weil die Leute dann erstens sagen, dass Freiheit, Gleichheit, Solidarität einen Überschuss über den Kapitalismus haben, und darum gerade _auch_ im Gegensatz zu ihm stehen. Und weil sie dann zweitens sagen, dass wir keine andere Weise der Kritik haben, und dass wir deswegen Freiheit, Gleichehit, Solidarität einfordern müssen.

Ich weiß nicht. Das Problem ist natürlich, dass marxistische Kritik gerade nicht heißt, Abstraktionen, Ideale oder Utopien vorzustellen und dann vom Ideal aus den Kapitalismus zu denunzieren, sondern wegen der Unterdrückung und des Leids eine kritische und nicht denunzierende Analyse des Kapitalismus zu erarbeiten. Das ist aber irgendwie eine komplizeirte philosophische Betrachtung, die im politischen Handgemenge dann auch nicht verstanden wird.

Man müsste vielleicht bündig folgendes formulieren:

1. Warum sagt ihr kein Wort zur Kritik von Marx und Engels an der bürgerlichen Ideologie, an den Frühsozialisten und an den Linkshegelianern? Kennt ihr das nicht, ist es euch egal, sind Marx und Engels eh keine Bezugspunkte für euch? Inwiefern beansprucht ihr dann, antikapitalistisch zu sein?

2. Wie soll denn die Gesellschaft, die aus Freiheit, Gleichheit und Solidarität abgeleitet ist, aussehen? Das könnt ihr doch gar nicht sagen, weil es viel zu abstrakt und vage ist!

3. Habt ihr vergessen, dass solche Ideale nur durch Recht verwirklicht werden können, und dass dafür ein Staat nötig ist, denn wir gerade abschaffen wollen?

4. Wir Marxistinnen und Marxisten brauchen keine außenstehendes Denunzieren, keine Moral und keine Utopie, sondern wir kämpfen gegen die herrschenden Formen von Kapital und Staat, um uns zu befreien und unsere eigenen Reproduktionsbeziehungen zu entwickeln.

4. Wir Marxistinnen und Marxisten brauchen keine außenstehendes Denunzieren, keine Moral und keine Utopie, sondern wir kämpfen gegen die herrschenden Formen von Kapital und Staat, um uns zu befreien und unsere eigenen Reproduktionsbeziehungen zu entwickeln.

P.S.

Eine Bemerkung noch zur Kritik: Mir geht es weder darum, keine Kritik zu üben noch im Althusser- und Michael-Heinrich-Style eine „wertfrei-wissenschaftliche“ Analyse von Strukturen durchzuführen. Ich glaube aber, dass man keine Maßstäbe wie Freiheit usw. braucht, um schlecht zu finden, wenn Menschen von anderen kontrolliert werden, sie aus Wohnungen geworfen werden, sie vor Arbeitsdruck ubiquitär burn out entwickeln oder wenn Leute gefeuert werden, weil wegen toller Technik viel weniger gesellschaftliche Arbeitszeit nötig ist.

Die marxistische Perspektive der Kritik ist eine andere: Es geht in dieser Kritik a) um den Nachweis, dass diese ganzen schlechten Dinge von dieser Gesellschaftsform in systematischer Weise und notwendig produziert werden; und b) um die Kritik an all den Ideologien, die diese spezifische Gesellschaftsform naturalisieren und für ewig erklären.

Das wär dann die Bedeutung der Theorie-Arbeit und Kritik für die praktische Bewegung.

In der praktischen Perspektive geht es nicht darum, Freiheit, Gleichheit usw. zu verwirklichen, sondern dass wir uns den gesellschaftlichen Reichtum, wie er schon da ist, aneignen, und dazu müssen wir uns von den herrschenden Formen wie Staat und Kapital emanzipieren. Das ist eine andere Perspektive als das Einfordern von Maßstäben.