Marcuse und der Poststrukturalismus von Deleuze/Guattari

Kritische Theorie und Poststrukturalismus gelten traditionell als extreme Gegensätze. Betrachtet man jedoch spezifisch die Theorien von Marcuse und von Deleuze/Guattari, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Schon die Einflüsse ähneln einander: Marcuse ebenso wie Deleuze/Guattari (anders als Kritische Theorie bzw. Poststrukturalismus sonst) rezipieren die marxistische Revolutionstheorie, den Surrealismus[2] und den Existenzialismus[3]. Mit dieser Nähe dürfte auch die herausragende Bedeutung Marcuses im französischen 1968 (anders als die der anderen Kritischen Theoretiker) zusammenhängen, sowie die nachfolgende Marcuse-Rezeption des Anti-Ödipus[1]).

Die Auffassung des extremen Gegensatzes rührt hauptsächlich von einer Reduktion der Kritischen Theorie auf den späten Adorno und einer Konstruktion eines „der“ Poststrukturalismus im Singular („French Theory“). Die Kritische Theorie wäre dann von Vernunft, Autonomie des Individuums, Totalitätskritik geprägt, der Poststrukturalismus dagegen von Irrationalismus, Subjektlosigkeit, Fragmentierung. Wenn man dagegen einzelne Autor:innen spezifisch miteinander vergleicht, ergibt sich schnell ein ganz anderes Bild.

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Emanuel Kapfinger arbeitet in der BNF (Bibliothèque National de France), Foto von Marc Dahan

In der Bibliothèque nationale de France

Für ein halbes Jahr in Paris, nun wieder in Berlin. Herzlichen Dank an Marc Dahan für dieses schöne Erinnerungsbild geschossen – ich, arbeitend in der BnF, Bibliothèque nationale de France… forschend über Félix Guattari, französischen Hegelianismus, Walter Benjamin (der vor langen Jahrzehnten auch dort in der BnF saß). Es war eine aufregende, intensive, auch stressige (c’est Paris), aber auch schöne, unglaublich erkenntnisreiche Zeit.

Die „Pariser Manuskripte“ im „Anti-Ödipus“

Der Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari bezieht sich mindestens 13 Mal positiv auf die Pariser Manuskripte, darüber hinaus auch auf andere Frühschriften. Sie brechen also mit Althussers strukturalistischer Marx-Lektüre und seiner These des „epistemologischen Bruchs“ und eröffnen eine aufregende und – wie ich meine – sehr emanzipatorische und nicht mehr „humanistische“ Lektüre der Frühschriften, insbesondere des Begriffs des „menschlichen Wesens“.

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Reichtumsproduktion, psychische Energie und Kulturkritik

Ideologie- und Kulturkritik kann nicht darin bestehen, lediglich entfremdete Formen zu kritisieren, wie dies bei den heute üblichen Theorien der Fall ist (etwa Althussers Ideologietheorie oder Lukács‘ Verdinglichungskritik). Man muss vielmehr aufzeigen, dass in diesen entfremdeten Formen eine materielle Substanz in einer entfremdeten, abstrakten Form zirkuliert und uns beherrscht: Wie man dies nun auch nennt, psychische Produktion, psychische Energie, kultureller Reichtum, innere seelische Kraft.

Erst das kann eine wirklich materialistische Kulturkritik begründen, im Gegensatz zu einer letztlich idealistischen wie eben von Althusser oder Lukács.

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Brainstorming für eine Tagung über den „Anti-Ödipus“

Ziel: gegen die vorherrschenden Rezeptionen des „Anti-Ödipus“ eine revolutionäre Lektüre freilegen, durch präzise Lektüre des Texts und durch Lektüre des Kontextes des Buchs (z. B. Aktivismus von Guattari, Verhältnis zu 1968, politische Rezeption).

Themenvorschläge:

  • Die Rezeption der Pariser Manuskripte von Marx im Anti-Ödipus
  • Verhältnis zu konkreten revolutionären Praktiken
  • Gegensatz zwischen D/G und Foucault
  • Vergleichsskizze des „Anti-Ödipus mit Hocqenghem, Solanas, Preciado
  • Verbindungslinien mit dem deutschsprachigen antiautoritären Marxismus in der Tradition der Kritischen Theorie (insbes. der späte Marcuse, Krahl)

Verbindungslinien zwischen Krahl und dem „Anti-Ödipus“

Es ist alles andere als weit hergeholt, Krahl und Deleuze/Guattari zusammenbringen zu wollen. Elmar Kraushaar sagt: „Krahl war, wenn ich das so sagen darf, in gewisser Weise der deutsche Hocquenghem.“ Der Deleuze-Schüler Éric Alliez bezieht sich auf Krahl und hat die Verbindung zwischen Krahl und Deleuze in einem Seminar an der Uni Paris Saint-Denis diskutiert. Auch Antonio Negri zitiert Krahl und hat einiges mit ihm gemeinsam.

Ebenso gleichen sich die Kontexte beider Theorien: Beide versuchen eine genuin antiautoritäre und praktisch revolutionäre Theorie für die historisch aktuellen Bedingungen zu entwickeln, unter expliziter Kritik des traditionellen Marxismus wie auch des liberalen bzw. ödipalen Subjekts, und unter durchgehender Reflexion der emanzipatorischen Impulse der 68er-Bewegung.

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Skizze einer kulturkritischen marxistischen Lektüre des Anti-Ödipus

Ich versuche hier eine kulturkritische marxistische Lektüre des Anti-Ödipus auszuarbeiten. Zusammengefasst kann man sehr viel von der Kulturkritik des Anti-Ödipus lernen und sich von ihren antiautoritären Emanzipationsideen inspirieren lassen, muss sich dafür aber mit ziemlich grundlegenden Problemen auseinandersetzen, aufgrund derer der Anti-Ödipus praktisch – obwohl er in seinem Selbstverständnis marxistisch und revolutionär ist – bloß auf beschränkte Emanzipationen in finanziell abgesicherten kulturellen Nischen hinausläuft.

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