Krahls Texte sind unglaublich schwer zu lesen und in einen Zusammenhang zu bringen. Was allerdings den „Kern“ seiner Theorie und das Faszinierende und bis heute absolut Wichtige ausmacht, ist gerade die Vermittlung von Theorie und Praxis, die jeweils in seiner Theorie und Praxis vorliegt und deren Vermittlung er explizit reflektiert, und auch theoretisch und praktisch verfolgt.
Diese Vermittlung ist bei Krahl nicht vollständig entfaltet. Am Aufschlussreichsten sind seine Texte: Zu Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, Zur Ideologiekritik des antiautoritären Bewusstseins und Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins. Diese Texte gehen nur kursorisch in eine explizite Reflexion der Vermittlung von Theorie und Praxis über. Sie liegt vor allem vor im Zusammenhang seiner Texte als Texte und im Zusammenhang seiner Texte mit seiner Praxis in der 68er-Bewegung („Agitation“ & „Propaganda“) und in den organisatorischen Instanzen der 68er (SDS, Arbeitskreis zur Organisationsfrage, strategische Stellungnahme etc.).
Dies ist der Kern seiner Theorie, insofern sie für heute noch diesen unglaublichen Wert hat und warum wir sie heute studieren müssen. Aber dieser Kern liegt nicht in seiner Theorie als solcher vor, sondern ist nur von ihrer damaligen historischen Vermittlung mit Krahls Praxis und der 68er Bewegung verständlich. Dieser Kern der Theorie bzw. dieser Zusammenhang von Theorie und Praxis ist also nicht direkt aus dem direkten Inhalt einzelner Texte zugänglich, sondern nur durch die wirklich sehr schwierige Interpretation der praktischen Horizonte seiner Texte und der Zusammenhänge seiner Texte untereinander.
Wenn man dies so berücksichtigt, dann ergeben sich folgende Stufen der Vermittlung von Theorie und Praxis bei Krahl, und das ist dann hoffentlich auch eine Interpretationsfolie für ein erleichtertes Lesen der Texte von Krahl:
- Theorie als Theorie: Die Theorie betrachtet die Gesellschaft „unter dem Aspekt der Aufhebbarkeit“ (Krahl), d. h. gerade nicht als interpretierende Theorie, sondern a) als Theorie, die die Gesellschaft als eine betrachtet, die aus sich die Quellen ihrer eigenen Aufhebung hervorbringt (Krahl: „Theorie der Revolution“) und b) als Theorie, die von der revolutionären Praxis herkommt und Theorie um der Praxis willen betreibt (Krahl: „revolutionäre Theorie“), und c) beides ist natürlich ein Zusammenhang. So betreibt die Theorie aber genuine Theorie, die nicht unmittelbar auf Praxis hingeht, sondern ganz ernsthaft theoretische Fragen als solche stellt und bearbeitet, auch Fragen der Philosophie und grundlegenden Gesellschaftstheorie. (Bei Krahl zu lesen z. B.: „Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse“, „Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates“, „Der politische Widerspruch der Kritischen Theorie Adornos“, „Produktion und Klassenkampf“.; historisch seine Teilnahme am Soziologie-Kongress, seine angefangene Dissertation, seine Teilnahme an akademischen Uni-Seminaren.)
- Die Praxis der Theorie: Die Theorie betreibt nicht nur solche genuine Theorie, sondern ebenso auch konkret auf gegenwärtige Fragen der Emanzipation und der Bewegung hinzielende Reflexion, und sie vermittelt solche emanzipatorische Theorie in Bildungsveranstaltungen und „teach-ins“. Die Theorie ist insofern strategische und organisatorische Reflexion und revolutionäre Bildungsarbeit. (Bei Krahl zu lesen z. B.: „Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein“, „Zur Ideologiekritik des antiautoritären Bewusstseins“, „Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins“; historisch z. B. die sogenannte „Krahl-Schulung“ und seine zahlreichen teach-ins.)
- Die Theorie der Praxis: Die Praxis betreibt nicht nur genuine Praxis (Demos, Streiks, etc.), sondern organisiert sich auch in Bildungs- und Reflexions-Gruppen und in Kommissionen zur Diskussion von Strategie und Gestalt der Organisation. (Historisch z. B. der Arbeitskreis zur Organisationsfrage im SDS, seine Vorstandstätigkeit für den SDS.)
- Praxis als Praxis: Die genuine Praxis ist nicht „reine Praxis“ (so wie die Theorie nicht „reine Theorie“ ist), die kontextlose individuelle Aktionen und Proteste macht, sondern sie ist Praxis, die „Klassenbewusstsein“ (Krahl, gemeint ist „kritisches Totalitätsbewusstsein“) hervorbringen will, also einen kritischen Bezug der individuellen Konflikte zum Kapitalismus als Totalität, und korrespondierend dazu auf eine möglichst umfassende Organisierung der individuellen Konflikte untereinander hinarbeiten möchte. (Historisch z. B. der Aktive Streik im Wintersemester 1968/69, das Flugblatt zur sowjetischen Besetzung von Prag 1968 von Krahl/Mosler, die „Römerbergrede“.)