Versuch, den Faschismus von der Krise her zu verstehen

Ich versuche hier, den Faschismusbegriff von der Krise des Kapitalismus her aufzuziehen (dabei Krise und Kapitalismus nicht ökonomistisch-reduktionistisch gedacht). Faschismus wäre so verstanden die Konsequenz aus einer krisenhaften Unmöglichkeit kapitalistischer Reproduktion (nicht ökonomistisch gedacht), in der die Prämissen dieser Reproduktion durch Gewalt aufrechterhalten werden sollen. So lassen sich m. E. dann die Imperative z. B. des totalen Kriegs und der Vernichtung um ihrer selbst willen verstehen.

Viele würden wahrscheinlich sagen, ja klar, das ist ja common sense, dass der Faschismus aus der Krise des Kapitals resultiert. Mir scheint aber eher, dass die spezifische Singularität von Auschwitz in der heutigen Faschismusdiskussion nicht mehr konkret-inhaltlich vorkommt. Andererseits wird in dieser Debatte aber auch die AfD als faschistisch kritisiert, was ich für eine ziemliche Fehleinschätzung halte.

Zudem scheint mir in diesem common sense Krise nicht radikal als möglicher Zusammenbruch gedacht, als finale Krise. Dabei gibt gerade die aktuelle Corona-Krise Anlass, über den Krisenbegriff neu nachzudenken. Tatsächlich gibt es seit langem in der linken Theorie eine unselige Allianz sehr verschiedener Lager (Antideutsche, Regulationstheorie, Strukturalismus, Poststrukturalismus), die mithilfe eines entschärften Krisenbegriffs vor allem die Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus hervorhebt.

Die Überlegungen hatten mich die letzten Monate beschäftigt, und rührten daher, dass ich es nicht geschafft hatte, Faschismus durch die Begriffe der Dialektik und des Systems zu fassen. Meine Überlegungen verhalten sich kritisch zur „ersten“ Faschismustheorie der Frankfurter Schule (autoritärer Charakter & Staat), knüpfen aber sehr emphatisch an die „zweite“, oft als irrational abgekanzelte Faschismustheorie der Frankfurter Schule an (Rackets, Liquidation des Subjekts, Behemoth).

Gleichwohl ist es nur ein erster Versuch, das auszuformulieren, ich bin mir weder sicher, ob das nicht andere schon besser getan haben, noch ob ich irgendwelche Fallstricke oder grundsätzliche Dinge übersehen habe, oder im Detail vielleicht zu weitreichende Schlüsse ziehe. Falls jemand Lust und Zeit hat: Feedback, destruktive Kritik und Diskussion sind herzlich willkommen:

Krise als Zusammenbruch des Kapitalismus

Faschismus ist, wie ich glaube, nicht von der Systemlogik her zu denken, als immanenter Teil des Funktionierens kapitalistischer, staatlicher und ideologischer Reproduktion. Andererseits entsteht er gerade auch spezifisch aus dieser Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft – es geht gerade darum, dass Liberalismus, bürgerliche Vernunft, Patriotismus usw. aus sich heraus den Faschismus produzieren bzw. „in Reaktion umschlagen“. Es geht gerade um die „Dialektik der Aufklärung“.

Meine Überlegung ist daher, den Faschismus als Reaktion auf die Krise dieser Systemlogik zu denken, wobei diese Krise der Systemlogik immanent ist: Die Systemlogik funktioniert nur durch Widersprüche und produziert beständig und überall die Elemente der Krise. Die Krise selbst ist dann allerdings der Punkt, wo der gesellschaftliche Zusammenhang nicht mehr hergestellt werden kann (Zusammenbruch), d. h. die Krise ist auch kein bloß „negatives Moment“, durch das hindurch die Integration stattfindet (das wäre selbst eine hegelianisierende Spielart des Liberalismus).

Gerade die aktuelle Corona-Krise gibt Anlass, über den Krisenbegriff neu nachzudenken. In der Corona-Krise verdichten sich ja eine schwere Wirtschaftskrise und die Pandemie, wobei auch noch ein die Krise der alten Biopolitik, die Black-Lives-Matter-Bewegung, ein Umbruch in der Digitalisierung und der Aufschwung der Verschwörungstheorie mit hineinspielen. Demgegenüber ist der Begriff der Krise als möglicher Zusammenbruch, also der Begriff der finalen Krise, seit langem aus den Debatten der Linken verbannt gewesen (abgesehen von einem weichgespülten Krisenbegriff). Tatsächlich gibt es seit langem in der linken Theorie eine unselige Allianz sehr verschiedener Lager, die vor allem die Stabilität und Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus hervorhebt.

Was „Zusammenbruch“ genau heißt, müsste diskutiert werden – ich denke es aber in die Richtung, dass das materielle Überleben, die politische Steuerung, Rechtsgarantien usw. auf einem größeren Maßstab nicht mehr funktionieren und durch Gewalt als Nothilfe, also einen Rückfall in „vormoderne Gesellschaft“, ersetzt werden. Allerdings wäre der wesentliche Punkt des Arguments, dass dieser Zusammenbruch real nie (oder eher nicht) passiert, weil an dem Punkt die faschistische Integration einspringt.

Faschismus: Nichtung als Erhalt des Systems in seiner Krise

Faschismus wäre also zu fassen als ein spezifisches Resultat einer systemweiten Krise, in der das System zerrüttet ist und nicht mehr funktioniert, aber zugleich in einem prekären Modus fortexistiert und aus sich heraus beständig Kräfte produziert, die das System durch Gewalt am Leben erhalten wollen. Diese Gewalt ist zu verstehen nicht als Mittel für ein nützliches Ziel (z. B. Partikularinteressen, Herrschaft), sondern sie ist eine Nichtungsgewalt, d. h. Nichtung erscheint als „absolute Notwendigkeit“.

Ein Bild dafür wäre in etwa, dass in der Situation des Untergangs (d. h. nicht eines individuellen, sondern allgemeinen Untergangs) jedes Mittel nötig ist, um zu überleben, eben weil es radikal um Leben und Tod überhaupt für die Welt überhaupt geht. Dabei ist diese „Situation des Untergangs“ allerdings kapitalistisch und ideologisch präformiert und stellt sich als Untergang nur unter bestimmten Prämissen dar, wie „Untergang des deutschen Volkes“, „Untergang des Abendlandes und der Vernunft“, „Untergang der staatlichen Ordnung“, „Untergang der eigenen Familie“, „Untergang des eigenen Betriebs“. Das sind bestimmte „bürgerliche“ Prämissen, die man nicht voraussetzen muss, die sich aber in dieser Situation der Bedrohung sicherlich umso heftiger in den Köpfen festkrallen. Damit will ich auch sagen: Der Faschismus ist als Krisenfolge von allen sozialen Sphären und ihrem Zusammenhang her zu denken: Ökonomie, Kultur, Politik, Wissenschaft, Naturverhältnisse usw.

Dieser Faschismusbegriff muss sich dabei nicht unbedingt auf umfassende faschistische Herrschaftsgebilde (Nazideutschland, Mussolini) beziehen, sondern kann sich auch auf die immer wieder aufploppenden „kleinen“, aber alltäglichen Faschismen beziehen, z. B. rechter Terror heute, Aggression gegen Flüchtlinge im Mittelmeer, Amokläufe, sexuelle Gewalt in der Familie. Alle diese Beispiele müssen dabei nicht notwendig mit dem genannten Faschismusbegriff (Nichtung als Krisenreaktion zum Systemerhalt) analysiert werden, sondern können auch als Sadismus oder Hass analysiert werden. Umgekehrt muss aber nicht jeder Aspekt von Nazideutschland unter diesem Faschismusbegriff analysiert werden. Man kann auch von der heutigen, etwas beliebigen Bezeichnung der AfD als faschistisch Abstand nehmen und zugleich faschistische Elemente in ihr aufzeigen. Gleichzeitig wäre der Islamische Staat mit seinen Massakern und seiner totaler Herrschaft eher als Faschismus zu analysieren.

Krise und Dialektik

Die Wahrnehmung des Untergangs bzw. einer möglichen Nichtexistenz ist durch und durch kapitalistisch präformiert. Ohne das Festhalten an den bürgerlichen Begriffen ergibt sich diese Wahrnehmung gar nicht, denn es gäbe ja eigentlich immer die Möglichkeit nichtkapitalistischer Beziehungen. Diese sind aber zugleich nicht wahrnehmbar, weil die Nichtexistenz mit der bürgerlichen Identität verkoppelt ist: keine Identität zu haben (kein Volk zu sein, nicht als Familie zu leben usw.) bedeutet auf verquere Art, „nicht zu existieren“.

Wenn sich Faschismus und Krise auf den Zusammenhang aller sozialen Sphären bezieht, dann entsteht natürlich die Frage: Was ist eine Krise der Kultur bzw. der Ideologie? Wahrscheinlich ungefähr der Augenblick, in dem einander gegenüberstehende Teile sich einander ganz grundsätzlich nicht mehr vertrauen und keine Integration mehr gelingt, wo es z. B. zu systematisch-gesellschaftsweiten Brüchen zwischen Liberalismus und Konservatismus, Heimatliebe und Kosmopolitismus, „Mainstream“ und „Verschwörungstheorie“ kommt – oder wo sich z. B. die Familien oder sozialen Milieus gegenseitig nicht mehr vertrauen.

Für die Ausarbeitung des Krisenbegriffs müsste man sich sicherlich mit dem Verhältnis von materialistischer Dialektik/Systemlogik und Krise im Marxschen „Kapital“ auseinandersetzen: Marx verfolgt den Krisenbegriff von ganz von Anfang an, zeigt seine unterschiedlichen Modalitäten und Elemente auf, um schließlich zu gesellschaftsweiten „Krisenmotoren“ zu gelangen (tendenzieller Fall der Profitrate, relative Mehrwertproduktion). Diese sind dann aber nicht als einheitliche, substantielle Logiken zu denken, sondern eher als „blind-zufälliges“ Zusammentreffen von verstreuten Krisen-Elementen.

Hierbei wird übrigens ein Unterschied zur idealistischen Dialektik Hegels besonders deutlich: Hegel kennt keine Krise, und kann keine kennen, weil es für ihn nichts außerhalb des Systems gibt und das System ewig und wahr ist. Es wäre eine interessante Frage, wie die Brüche und Krisenelemente des Systems in Hegels Texten verkleidet sind, denn existieren müssen sie ja, und Hegel beschreibt ja in vielerlei Hinsicht die kapitalistische Gesellschaft ganz realitätsgetreu. Möglicherweise liegt dieser Moment in den überall stattfindenden „radikalen Nichtungen“, an denen eigentlich die Dialektik gerade nicht mehr weitergehen kann, und Hegel dann doch irgendwie weitermacht. Dies sind keine dialektischen Negationen, die als Vermittlung wieder zu etwas Positivem übergehen, sondern es sind wirkliche Enden. In der „Phänomenologie des Geistes“ hat der Tod und das Nichts hervorgehobene Bedeutung: Kampf auf Leben und Tod, „Der Geist ist ein Knochen“, der Tod als der positive Zweck der Familie, der Staat setzt die Opferung der Einzelnen für sein Bestehen voraus, der terreur der französischen Revolution.

Die Singularität von Auschwitz

Diese Theorie des Faschismus würde nun aber eine Unterscheidung machen zwischen „regressiven“ Elementen der Systemlogik, die Teil ihres Funktionierens sind, und dem Faschismus selbst. Solche regressiven Elemente wären etwa Populismus, Nationalismus, Antisemitismus. Diese Dinge sind sozusagen nicht schön, aber sie sind struktureller Bestandteil der Systemlogik und sie entstehen nicht erst aus ihrer Krise. Konkret: Das Verhältnis von AfD und CDU wäre als Teil der Systemlogik zu denken (so wie der Rassismus und der Rechtspopulismus auch vor der AfD wichtige Bestandteile der CDU waren). Umgekehrt bekommen dadurch die faschistischen Gewaltreaktionen auf die Krise nochmal einen ganz anderen, bedrohlicheren Stellenwert:

Dies betrifft die Singularität von Auschwitz: Man kann Auschwitz und den Vernichtungskrieg der Nazis so verstehen, dass die Nazis versucht haben, eine zerrüttete Systemlogik in der Krise aufrechtzuerhalten, koste es was es wolle; und das gerade hat die Krise nur immer noch mehr verschärft, so dass auch die Nichtung immer totaler werden musste.

Den Kolonialismus und die kapitalistische Sklaverei, so brutal und menschenverachtend sie sind (ja, immer noch), kann man dann gerade nicht gleichsetzen mit Auschwitz, weil die versklavten Menschen letztlich immer noch ein Mittel zu einem bestimmten Zweck sind. Ihr Leben zählt darin nichts und wird zum Teil auch profitorientiert miteinkalkuliert, aber in dieser Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leben geht es immer noch um Ausbeutung, und nicht um die Vernichtung ihres Lebens.

Faschismustheorie in der Frankfurter Schule

Das Problem der meisten Faschismustheorien wäre also, dass sie lediglich systemimmanente Logiken benutzen, um Faschismus zu erklären, dass dies aber nicht ausreicht. Das betrifft auch einen Großteil der Theoriestück der Frankfurter Schule zum Faschismus, so den Masochismus des autoritären Charakters (Reich, Fromm), das nichtintegrierte Über-ich (Adorno), die Interessen des Finanzkapitals oder die politischen Interessen von Rechtskonservativen, Antisemiten oder Ordnungsfanatikern. Diese Theoriestücke des Institut für Sozialforschung werden ja auch heute maßgeblich für die Analyse des aktuellen Rechtsrucks verwendet.

Demgegenüber wurden aber ebenfalls im Institut für Sozialforschung Theoriestücke entwickelt, um den Faschismus eben von der Krise der Systemlogik her zu denken:

  • Die Racket-Theorie (Pollock/Horkheimer): Politik erhält die Form organisierter Kriminalität, d. h. streng hierarchischer, nach außen abgeschlossener, kollektiv für ihre Interessen kämpfender Gruppen.
  • Die 7. These der „Elemente des Antisemitismus“: Bruch mit dem Subjekt, rein-abstraktes Funktionieren
  • Franz Neumanns Behemoth: Fragmentierung von Staatlichkeit in unabhängige Logiken
  • Auschwitz als Singularität und radikaler Zivilisationsbruch
  • Die Kritik an Heidegger als blanker, nicht mehr vermittelbarer Irrationalismus

Bei diesen Theoriestücken geht es immer darum, dass Substanzen, die von der Systemlogik produziert werden, aus ihr herausgebrochen werden und an ihrem ganz abstrakten egoistischen Interesse (so wie es in seiner Form von der Systemlogik produziert ist) festhalten, aber gegenüber allem anderen in einer radikalen, absoluten Gleichgültigkeit verfahren – so wie rücksichtslos ihr blankes Interesse durchgesetzt werden kann.

Es ist denke ich deutlich, dass eine solche Theorie des Faschismus überhaupt nur möglich wird, wenn man die vom System produzierten Krisen so versteht, dass sie zu einem realen Bruch von Gesellschaftlichkeit führen, und nicht nur wieder den Boden bereiten, dass das System in besserer Weise funktionieren kann. In der Theorie der Systemlogik muss daher auch genau diese Krise systematisch mitanalysiert werden – was Marx im „Kapital“ ja macht. Damit zeigt sich jedoch zugleich, dass die linken Theorien der Gegenwart (Strukturalismus, Poststrukturalismus, Regulationstheorie), die ab den 60ern entstanden sind, gerade nicht geeignet sind, den Faschismus zu analysieren. Sie sind nicht dazu geeignet, eben weil sie stets die Stabilität des Kapitalismus, seine unglaubliche Wendigkeit, selbst noch jeden Widerstand – wie die 68er – neu für sich fruchtbar zu machen, die Unhintergehbarkeit des Diskurses und den funktionalen Charakter der Krise für die Erneuerung des Kapitalismus, stark gemacht haben.

Krise und Revolution

Aber die Krise führt nicht nur und nicht notwendig in die Barbarei. Sie ist immer auch Anlass für reale Brüche mit dem Bestehenden. Damit zeigt sich ein Verständnis von finalen Krisen der kapitalistischen Gesellschaft an, in denen entlang des Nichtfunktionierens des Systems Kämpfe, Bewusstsein und Organisierung in gesellschaftsweitem Maßstab stattfinden, und ebenso flächendeckend bilden sich hier Ansätze nichtkapitalistischer Beziehungen. Was ich hier gesagt habe, beinhaltet also auch, dass die Krise zentral für unser Verständnis von revolutionärer Praxis ist, es beinhaltet, wieder neu über Revolution ausgehend von Krisen nachzudenken – und nicht ausgehend von Kampagnen, Großevents, Bildungsarbeit, institutioneller Transformation, Alltagsorganisierung. Vor allem in und um die reale Krise des Systems stellt sich neu die alte Frage: Sozialismus oder Barbarei?