Warum Benjamin heute für uns wichtig ist. Fünf Thesen

Gerade komme ich von einer intensiven Woche voller Inhalt und Diskussionen rund um Walter Benjamin, beim großartigen Kantine-Festival in Chemnitz. Ich habe jetzt im Nachgang fünf Thesen entwickelt, welche Aspekte Benjamins wir mit welchen Fragestellungen aus Perspektive einer zeitgemäßen marxistischen Theorie rezipieren können. Dazu also fünf Thesen, in denen ich teilweise etwas vorläufig versuche, den Zugang zu Benjamin zu umreißen.

1.

Man muss Benjamin von den ausgearbeiteten Texten aus der Mitte der 30er Jahre her rezipieren. Von hier aus werden auch die anderen Texte produktiv und kritisch. Der Grund für diese „perspektivische“ Lektüre ist, dass Benjamin in recht kurzer Zeit recht viele Positionsänderungen durchmacht. Er hält nicht den einen theoretischen Ansatz durch und baut ihn aus, sondern es gibt grundlegende Brüche (ich habe generell den Eindruck, dass er hin- und hergeworfen ist von seiner Zeit), und als Ansatz einer spezifisch marxistischen Theorie können nur die Texte aus der Mitte der 30er Jahre gelten.

Ich schlage vorläufig folgende Phasen vor (das muss ich noch präzisieren):

  • Bis ca. 1927: neukantianisch/lebensphilosophisch/theologisch, intellektueller Linksradikalismus
  • Ca. 1927 bis ca. 1933: Gesinnungsmäßiger Kommunismus, der aber nur abstrakt parteilich ist und keine Auswirkung auf die Theorie hat. Zentraler Text: „Einbahnstraße“
  • Ca. 1933 bis 1939: Marxistischer theoretischer Ansatz
  • 1940: geschichtsphilosophische Thesen

Der marxistische Ansatz der Mitte der 30er Jahre verbindet sich zugleich mit einer praktisch-revolutionären Perspektive. Benjamins Theorie dieser Zeit reflektiert sich in ihrer konkreten Stellung und Bedeutung in revolutionärer Praxis und antifaschistischem Kampf. Die Verbindung aus Theorie und Praxis ist das Entscheidende dieser Phase. Die geschichtsphilosophischen Thesen sind aus dieser Phase auszuschließen, weil Benjamin hier unter dem Eindruck des unaufhaltsamen Verhängnisses (Hitler-Stalin-Pakt, Verfolgung der europäischen Juden) sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als auf eine messianische Erlösung gegen den Lauf der Geschichte zu hoffen, und nicht mehr in widerständiger und organisierender Praxis, so schwierig und verstellt sie auch sein mag.

Die zentralen Texte der Mitte der 30er Jahre, auf die ich mich beziehe, sind folgende:

  • „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“
  • „Der Autor als Produzent“
  • Exposé zum Passagen-Werk
  • „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“

Es gibt in der Zeit natürlich auch andere Texte, die großartig und auch sehr politisch sind (u. a. „Deutsche Menschen“, „Zum gegenwärtigen Standort des französischen Schriftstellers“), in denen aber der marxistische Ansatz nicht so explizit wird.

Im Lichte dieser Texte lassen sich dann auch die Text der anderen Phasen perspektivisch kritisch rezipieren, allen voran das Trauerspiel-Buch und „Zur Kritik der Gewalt“. Ohne die Texte der 30er Jahre wären es nur sehr gute philosophische Arbeiten, die man rezipieren kann wie sehr gute philosophische Arbeiten (z. B. von Nietzsche, Burckhardt, Bataille), die aber nicht anschlussfähig sind für marxistische Theorie.

Im Lichte dieser Texte lassen sich dann auch die Text der anderen Phasen perspektivisch kritisch rezipieren, allen voran das Trauerspiel-Buch und „Zur Kritik der Gewalt“. Ohne die Texte der 30er Jahre wären es nur sehr gute philosophische Arbeiten, die man rezipieren kann wie sehr gute philosophische Arbeiten (z. B. von Nietzsche, Burckhardt, Bataille), die aber nicht anschlussfähig sind für marxistische Theorie.

2.

Benjamin arbeitet in einem Marxismus im Sinne eines Historischen Materialismus, den die heutige linksradikale Theorie (anders als die heutige parteimarxistische Theorie) im Prinzip nicht kennt, was ein eklatanter Mangel ist. Die heutige linksradikale Theorie ist es gewohnt, den Kapitalismus „im idealen Durchschnitt“ zu betrachten, ihr Augenmerk gilt Strukturen abstrakter Herrschaft wie „dem“ Diskurs, „dem“ Kapital, und Begriffen wie Fetisch, Subjekt, Struktur usw. Dadurch fehlt ihr aber der historische Bezug und nicht zuletzt auch die Perspektive für den historischen Bruch mit dem Bestehenden.

Die Analyse der Strukturen abstrakter Herrschaft ist wichtig, es sind die verselbständigten Systemlogiken der kapitalistischen Gesellschaft. Sie darzustellen ist Aufgabe der materialistischen Dialektik, d. h. gerade die Strukturen abstrakter Herrschaft, allerdings als konkreter Zusammenhang etlicher heterogener Teillogiken (für die linksradikale Theorie gibt es nur undifferenzierte Prinzipien wie „den“ Staat, „das“ Subjekt usw.).

Der große Mangel in Benjamins Marxismus ist, dass er keine materialistische Dialektik praktiziert und anerkennt. Er arbeitet in seinen Analysen nicht den verselbständigten Charakter autonomer Strukturen heraus. Er hat auch nie in nennenswertem Umfang Hegel rezipiert, Bezugnahmen auf Hegel kommen über name dropping und vereinzelte Hegel-Zitate nicht hinaus. In seinem Marxismus interessiert er sich nicht für die Werttheorie und nicht für die ökonomische Logik der Krise, sondern er sieht die Problematik – und das stimmt natürlich auch – in der Herrschaft des Profits und den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen. Adorno hat in seinen Briefwechsel diesen Marxismus Benjamins kritisiert; er hat nicht Benjamins Marxismus überhaupt kritisiert, sondern diesen rein historisch-materialistischen Marxismus, der keine materialistische Dialektik kennt.

Zwei problematische Konsequenzen des Fehlens der materialistischen Dialektik bei Benjamin sind folgende: Trotz seiner Kritik des Fortschrittsdenken fetischisiert er die Produktivkraftentwicklung (Technik) selbst wieder zu einer autonomen Logik. Für Benjamin haben Apparate in ihrer „rein objektiven“ technischen Struktur unmittelbar schon soziale Konsequenzen, ohne dass ihre soziale Form und Beziehung eigens berücksichtigt werden müssen (z. B. Reproduktionstechnik, Photographie).

Ich sehe folgende Elemente von Benjamins Historischem Materialismus:

a) Die Geschichte ist eine Geschichte von Herrschaft und Gewalt, und nur auf dieser Basis gibt es die autonomen Systemlogiken, die zugleich nicht aus sich heraus funktionieren, sondern nur durch den immer möglichen Einsatz von Gewalt aufrechterhalten werden. Die Gewalt liegt der Systemlogik zugrunde. Die linksradikale Theorie leugnet bzw. übersieht diese zugrundeliegende Gewaltgeschichte, für sie existiert nur die Herrschaft abstrakter Strukturen.

Dieses Element kann man mit der ursprünglichen Akkumulation bei Marx und der Disziplinierung der Frauen („Hexenverfolgung“) bei Federici vergleichen.

Geschichtsphilosophische Thesen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘ [Faschismus], in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ Die Geschichte ist in Wahrheit „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“.

b) Nach Benjamin ist für den Zustand der Gegenwart und für eine Prognose der nächsten Zukunft der Entwicklungsstand der Technik und ihre kulturellen und politischen Bedeutungen entscheidend: Zum Beispiel Reproduktionstechnik, Film, Photographie, Rundfunk, Telefon usw. Das heißt anders als die heutige linksradikale Theorie stellt er die konkreten Technik und deren intrinsische Kräfte in den Mittelpunkt. Für die linksradikale Theorie gibt es demgegenüber nur „losgelöste“ soziale Strukturen, die ausschlaggebend sind, die Technik ist hier immer nur äußerliches Anhängsel. Dem entspricht eigentlich eine Ent-Materialisierung der Theorie, die so ihren Materialismus verliert.

c) Benjamin interessiert sich nicht für abstrakte Strukturen wie „das“ Kapital und „den“ Kapitalismus im idealen Durchschnitt, sondern stets für historisch konkrete Wirklichkeiten, die er sehr getreu, detailliert und präzise darstellt, sei es eine Epoche, ein Leben, ein Gegenstand: Das Theater des Barock, der Flaneur und die Bohème im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, das Telefon, die Erfahrung heute, der Dichter Baudelaire usw. In diesen historisch konkreten Wirklichkeiten ist letztlich das, was wirklich ist, nicht die abstrakten Strukturen, die sich andererseits in der historisch konkreten Wirklichkeit verdichten und in verschiedenen Modalitäten in sie eingehen, wobei bestimmte abstrakte Strukturen für eine Wirklichkeit auch keine Rolle spielen können usw. Historisch konkrete Wirklichkeit bewegt sich im Element des Einzelnen und des Differentiellen, in dem vieles den abstrakten Strukturen auch nicht entsprechen muss.

Dies ist vergleichbar den historisch-materialistischen Studien von Marx und Engels, z. B. „Der 18. Brumaire des Louis Napoléon“, „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“.

3.

Benjamins zentrale historische Denkfigur in den 30er Jahren ist der historische Shift vom liberalen, individualistischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts zur entfalteten industriellen Moderne seiner Zeit mit der industriellen Automation, der Technik im Straßenverkehr, der Filmindustrie, dem ubiquitären Zeitungswesen usw. Dieser historische Shift wird in zahlreichen Themen und Facetten durchdekliniert. Im Kunstwerk-Aufsatz wird er thematisiert im shift von der Aura zur Reproduktionstechnik und den auf dieser Basis stattfindenden Reauratisierungen (z. B. Surrealismus, Neue Sachlichkeit, Starkult).

Benjamins Denken bewegt sich in dieser Zeit immer zwischen diesen beiden historischen Polen: Um seine Zeit der entfalteten industriellen Moderne zu begreifen, muss man die historische Kontrastfolie der Aura und des klassischen Bürgertums haben. Erst auf dieser Kontrastfolie, durch den Unterschied, kann man erkennen, was die Moderne ist, und auch, wie sie historisch entstanden ist. Deswegen heißt das Passagen-Werk auch „Urgeschichte der Moderne“. Deswegen sind für Benjamin die übergängigen Figuren wie die Passagen, der Flaneur oder Baudelaire so wichtig, weil sie mit einem Stiefel noch im Bürgertum stehen, und mit dem anderen schon in der Moderne, aber Benjamin denkt das als Dialektik: Der Stiefel im Bürgertum ist zugleich dialektisch hinweisend auf die Moderne, und durch ihn ist andererseits die heutige (1935) Krise der Moderne zu erkennen. Benjamin untersucht die Entstehung der Moderne im 19. Jahrhundert, um die Moderne in ihren ersten und einfachsten Anfängen zu fassen zu bekommen.

Das ist ein komplexes Hin und Her bei Benjamin zwischen diesen historischen Polen. Wichtig ist, dass Benjamin das als „dialektisches Bild“ und „Dialektik im Stillstand“ begreift, d. h. die analytische Explizierung der Dialektik, die ich gerade angedeutet habe, würde er selbst so nicht vornehmen.

Nun bin ich aber etwas vom Thema abgekommen.

Eigentlich wollte ich folgendes formulieren:

Benjamin hat nur pro tanto recht: Das liberale Bildungsbürgertum und die auratische Kunst sind auch nach Einführung der Reproduktionstechnik nicht weg, und andererseits gibt es das, was für Benjamin eine Reauratisierung ist, auch schon vor Einführung der Reproduktionstechnik, z. B. der durch den Star Luther betriebene Hype gegen die Katholische Kirche oder die Mittelalterglorifizierung der deutschen Romantik.

Was Benjamin fehlt, ist eine Perspektive auf die abstrakten gesellschaftlichen Strukturen, auf die autonomen Teillogiken, sei es der Kunst, des Spektakulären, des Politischen. Es gibt autonome, auratische Kunst vor wie nach der Einführung der Reproduktionstechnik.

Man muss aber Benjamin anders begreifen, nämlich von der oben beschriebenen Perspektive der historisch konkreten Wirklichkeit her: Die Moderne und ihre Technik verändert die Wirklichkeit des klassischen Bürgertums und der autonomen Kunst, auch wenn beides als Form in ihrer Teillogik fortbesteht. Aber die Inhalte und historisch konkrete soziale Stellung sind damit unwiederbringlich verändert. Denn im Endeffekt der historisch konkreten Wirklichkeit kommt es eben nicht auf die Teillogiken an, sondern wie diese sich mit anderen Teillogiken in der Geschichte verdichten. Und dies führt dazu, dass die Kunst nie mehr so sein wird, wie sie um 1800 war, als tatsächliches Werk von Individuen, sondern immer schon in einen ungeheuren technischen Komplex eingespannt (Zeitungsrezensionen, fotografische Reproduktion, Herstellungsprozess selbst). Diejenigen Formen der autonomen Kunst, die auf dieser Basis entstehen, sind zwar autonom, aber eben inhaltlich nicht unabhängig von der Technik zu denken: Dadaismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit, Krise des Romans usw.

Und diese Perspektive ist heute darum aktuell, weil wir schon wieder in einer Epoche einschneidender technischer Veränderungen leben, die in ihren konkreten kulturellen und politischen Konsequenzen analysiert werden müssen: Digitale Revolution in Smartphone, facebook, google, amazon, Netflix, big data usw. – Natürliche Änderungen durch Klimaerwärmung mit allen ihren Konsequenzen.

4.

Benjamin hat eine genuin marxistische Kulturtheorie, in der er das Paris des 19. Jahrhunderts und im Kontrast dazu die entfaltete industrielle Moderne seiner Zeit darstellt. Dies ist im Passagen-Werk anvisiert, das er zwar nicht als Buch fertig bekam, aber teilweise in dem 200seitigen Fragment „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ in abgeschlossenen Textstücken ausarbeiten konnte. Dieses Buch geht zwar über Baudelaire, aber zugleich über das Paris des 19. Jahrhunderts; es geht darin um die Bohème, den Flaneur, die Barrikadenkämpfe, die politische Diktatur des Second Empire, um die Passagen und vieles mehr.

In dieser marxistischen Kulturtheorie geht er folgendermaßen vor: Er stellt die Kultur des Paris des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Teil-Aspekten vor: Die Bohème, der Flaneur, die Moderne, Baudelaire. Weitere Aspekte sind im Exposé zum Passagen-Werk angeschnitten: Die Passagen, die Panoramen, die Weltausstellungen, das Interieur, die Haussmannisierung und die Barrikadenkämpfe. Aber auch diese Aspekte werden wiederum im Baudelaire-Buch verhandelt, denn letztlich sind alle diese Aspekte miteinander verknüpft und ergeben nur in ihrem konkreten historischen Zusammenhang die Wirklichkeit des Paris des 19. Jahrhunderts.

In der Darstellung der Teil-Aspekte geht Benjamin so vor, dass er zahlreiche Facetten der Aspekte wiederum in ihrer Konstellation so beschreibt, dass sie in dieser Konstellation den Aspekt konstituieren. Es gibt keine innere Notwendigkeit für diese Konstellation, sondern diese ist kontingent, aber in ihrem Zusammen ergeben sie das Konkrete des Aspekts. Am Beispiel der Bohème: Er beschreibt die ökonomische Klassenlage, die sozialen Formen, die Identitäten und Selbstsichten, die politischen Bezüge zu anderen Klassen, die politische Großwetterlage, die literarischen Formen in ihrem Inhalt usw. So ergeben sich für einen Teil-Aspekt unzählige Strahlen von Facetten, über die jeder Teil-Aspekt schließlich mit den anderen Teil-Aspekten zusammenhängt.

Man kann dies als exemplarische Methode für marxistische Kulturtheorie lesen. Dies hat fünf Punkte:

a) Der kulturelle Gegenstand, hier das Paris des 19. Jahrhunderts, wird in einer unglaublichen Tiefe und Vielgestaltigkeit dargestellt und so plastisch, dass er wie ein reales Bild vor dem inneren Auge erscheint. Der Gegenstand wird in der Wirklichkeit seiner unzähligen Facetten dargestellt, die ihn ausmachen.

b) Benjamin entwickelt für diese Darstellung etliche Begriffe von enormer Prägnanz und analytischer Kraft, die anschlussfähig weiterverwendet werden können, und zwar aus marxistischer Perspektive: u. a. Aura, Phantasmagorie, kulturelles Unbewusstes, kollektives Gedächtnis, kollektiver Traum über die Zukunft.

c) Benjamin geht dabei genuin marxistisch vor, das heißt er kulturalisiert die Kultur des Paris im 19. Jahrhundert gerade nicht, d. h. er hypostasiert die Kultur gerade nicht gegenüber Ökonomie und Politik, sondern begreift die Ökonomie (Konkurrenz, industrielle Warenproduktion, Proletarisierung, Krise, Finanzspekulation) gerade als die materielle Basis, auf der diese Kultur sich entwickelt und aufgrund derer sie zu begreifen ist. Andererseits denkt er die Politik (inklusive Justiz und Repressionsarbeit) als das „Dach“, unter dessen spezifischen Mechanismen diese spezifische Kultur gedeiht.

d) Benjamin stellt alle Teil-Aspekte und Facetten in ihren konkreten Wechselbezügen und wechselseitigen Bedingtheiten dar. Dadurch ergibt sich insgesamt das Gefüge einer letztlich systematischen Verfassung, trotz der Kontingenz im Einzelnen. Diese kapitalistische Kultur ist so etwas wie eine „konstellative Totalität“ aus Barrikadenkämpfen, Passagen, Eisenkonstruktionen, politischen Flugschriften, Vorformen der Massenmedien uvm. Sie entwickelt sich als diese „konstellative Totalität“ weiter und ist daher auch nur in dieser „konstellative Totalität“ zu überwinden, wobei hierfür auch jeder einzelne Aufgaben übernehmen kann.

e) Die Darstellung von Kultur ist bei Benjamin zunächst nicht normativ „kritisch“, sondern positiv und konkret. Es geht darum, die „konstellative Totalität“ der Kultur in ihrer Vielschichtigkeit und ihren Wechselbezügen darzustellen, nicht, sie normativ zu kritisieren. Damit hat Benjamin einen Kritik-Begriff, der genuin marxistisch ist und den Sinn hat wie in Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie.  

Dies ist heute deshalb wichtig, weil die heutige Theorie keine marxistische Kulturtheorie kennt: Kultur wird gemeinhin kulturalisiert, dann aber überdies nicht als Kultur im beschriebenen Sinne begriffen, sondern wieder zersplittert in bloße Teil-Aspekte oder Einzel-Facetten wie Sexismus, Bildlichkeit, Sprache, Bildungsdistinktion, Subjektivierung.

5.

Benjamin versucht in seiner Kulturtheorie beständig eine emanzipatorische Perspektive zu formulieren, die genuin kulturell ist. Dies ist deshalb heute von großem Interesse, weil uns eine kulturrevolutionäre oder kulturemanzipatorische Perspektive abhanden gekommen ist und wir darüber nicht mehr nachdenken können.

Ich sehe im Grundsatz zwei Seiten davon, die ich aber momentan nur erst provisorisch formulieren kann:

a) Eine emanzipatorische Nützlichkeit, wie sie auch in der Entwicklung der Technik angelegt ist. Es geht darum, Dinge zu verwenden, aber nicht, sie auratisch und als Geheimnis zu verehren. Dinge und Technik werden dann menschlich gehandhabt, wenn sie gebraucht werden, also durch ihren Gebrauchswert. Dafür steht exemplarisch das Buch „Einbahnstraße“, in dem Lebensratschläge mit Ironie, politischen Überlegungen und aufschlussreichen Beobachtungen gepaart sind.

Ein Zitat in diese Richtung: „Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Bewisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen.“ (Kunstwerk-Aufsatz, These VI)

b) Ein wechselseitiges Kommunizieren zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Es ist eine befreite Welt, in der die Dinge beredt sind und die Natur menschlich wird. Es ist eine Welt, in der das Verhältnis „dazwischen“ konkret wechselseitig wird.

Ein Zitat in diese Richtung: „Nach Fourier sollte die wohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den Polen zurückziehen, daß das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst des Menschen träte. Das alles illustriert eine Arbeit, die weiter entfernt die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern.“ (Über den Begriff der Geschichte, XI)

Siehe auch den Text „Der Autor als Produzent“: Es geht um die Überwindung des Gegensatzes von Proletariat und Schriftsteller, von Photographie und Literatur, von Bühne und Publikum, usw.

a) und b), diese beiden Seiten, thematisiert Benjamin immer wieder in konkreten Figuren und Erfahrungen, die er in seinen Texten versucht aufzuschlüsseln. Beispielsweise entsteht im Rausch eine Verbundenheit mit der Welt, oder der Flaneur kann die (entfremdete) Stadt wie als Landschaft betrachten, in der die Dinge zu ihm sprechen und er in einem vertrauten Verhältnis zur Landschaft steht.

Damit steht er ganz faktisch kulturrevolutionären Ideen nahe, die 1968 formuliert worden sind, als die Einheit von Ökonomie- und Kulturkritik gefordert wurde: U. a. das Dérive der SI, der Rausch, die libidinöse Besetzung der ganzen Natur.